An den Ufern der Sinnlosigkeit Von Dr. med. Eckhard Schiffer
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Das Thema Sucht
und Suchtverhalten erscheint heute in der Öffentlichtkeit
zumeist als makabres Zählen von Drogentoten und im
Zusammenhang mit dem AlDS-Risiko bei Drogenabhängigen. |
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Das
Gemeinsame der verschiedenen Süchte: |
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Das Gemeinsame der verschiedenen
Süchte: |
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Die Felder der Sucht
variieren, durchgängig bleibt aber deren Struktur: ein
Hunger (wörtlich und bildlich) nach immer "mehr"
und intensiveren Reizen, jedoch begleitet von dem Gefühl,
dabei nie satt zu werden. Das ganze Erleben dreht sich
zunehmend um das Symptom - z.B. das Beschaffen,
Verschlingen und Erbrechen von Nahrung oder das Spielen
am Glücksspielautomaten. Die anderen Lebens- und
Erfahrungsbereiche bleiben blaß und schal. Renate, eine Patientin mit Eßproblemen, formulierte dies einmal so: "Hier ist eine unheimliche Leere, nichts läßt sich mehr denken, nichts macht mehr Spaß. Nur wenn ich die Klamotten (= Eßwaren) mir reinziehe, dann spüre ich so etwas wie Erlösung, schäme mich aber hinterher um so mehr, fühle mich schlecht und dreckig." Begreifen wir diese Störungen als unbefriedigten, "entfremdeten Hunger" nach Erfahrung, so erscheinen auch andere Krankheitsbilder in einem neuen Zusammenhang. Es häuft sich die Zahl jugendlicher Erwachsener, die mit Antriebs-, Phantasiearmut und fehlender Zukunftsorientierung in die Sprechstunde kommen. Ebenso klagen Lehrer/innen über mangelnde Motivation und Lethargie in den höheren Klassen. Jüngere Schüler zeigen häufiger ungehemmte Aggressionsausbrüche gegen Mitschüler und Gegenstände. Gemeinsam ist diesen beiden Gruppen ein Mangel an Ausdauer und Konzentration, mit der auffälligen Ausnahme im Kunst- und Werkunterricht. Diejenigen, die ihren "Hunger" nicht mit Alkohol, Tabletten, Musik o.ä. betäuben, greifen zu extremen Reizerfahrungen, um dem faden, reglementierten Alltag zu entkommen: mit Auto oder Motorrad über die Autobahn rasen, den "Kick" einer Höchstpunktzahl am Spielautomaten erleben oder das schockierendste Horror-Video ohne Abwenden sich "reinziehen". Wie sich die Symptome auch äußern, "lärmend" oder "depressiv", stets bleibt die Erfahrung unbefriedigend, ruft nach mehr. In der Sprache von Jugendlichen zeigen sich eine Mischung aus Unbestimmtheit und der Wunsch nach dem Außergewöhnlichen: z.B. ein Musikerlebnis war "irgendwie total gut" oder "ätzend", "grell", "wahnsinnig". Die klinische Erfahrung hat uns
gelehrt, daß Suchtmittel deshalb nicht befriedigen können,
weil sie "Ersatzcharakter" haben. Dies hält
die Tendenz zum "Immer-Wieder" und "Immer-Mehr"
aufrecht. Freßattacken, Glücksspiel u. a. stehen aber
nicht mehr für einen Ersatz an sexueller Erregung,
sondern tauchen zunehmend im Zusammenhang mit einem gestörten
Selbstwertgefühl auf. Sich selbst als ganze Person zu spüren,
anerkannt zu wissen; für sich einen Sinn im Leben zu
finden - alle diese Motive finden sich bei diesem
verzweifelten, d.h. süchtigen, Verhalten. Wir
stellen uns hier die Frage, ob und welche Gründe es für
die Zunahme eines dergestalt entfremdeten Hungers geben
mag, die über die individuelle Lebensgeschichte hinaus
auf Gemeinsamkeiten gesellschaftlichen Ursprunges
verweisen. |
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Sinnverlust in unserer Gegenwart |
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Phantasie- und
Hoffnungslosigkeit, fehlender Schwung und mangelnde
Initiative lassen sich als Reaktionsformen auf eine Welt
interpretieren, die von Leistung, Wachstum und
Fortschritt geprägt ist, ohne daß der "Sinn"
dieser Maximen so recht deutlich wird: Warum und wofür
sollen wir immer mehr leisten, ist Wachstum für sich
schon sinnvoll, wohin führt der Fortschritt? Wir "haben"
immer mehr an Gütern und Möglichkeiten, wissen aber
immer weniger, wer wir "sind" (E. Fromm). Die
Verbindlichkeit vonwerten des "richtigen Lebens"
ist zunehmend geschwunden. Wissenschaft und Technik haben
die Welt und Natur "entzaubert": Sie haben uns
gezeigt, daß die Erde nicht mehr im Zentrum des
Universums steht, und den Menschen an den (vorläufigen)
Endpunkt einer "sinn"-losen Evolution gestellt,
in der kein göttlicher Plan, sondern das Recht des Stärkeren
herrscht. Der Mensch hat sich vom Zwang der Autoritäten
scheinbar gelöst und sich selbst an die Stelle Gottes
gesetzt, er muß in sich selbst einen Sinn suchen (Autonomie)
bzw. für sich und die Welt den Sinn "herstellen",
was ihn aber überfordert. Auf sich selbst gestellt, ist
es ihm nicht möglich, der Schöpfung einen "Sinn"
zu geben, er fragt nur noch, inwieweit die Natur ihm nützlich
ist. Damit wird aber Sinn in Zweck (Funktion und Leistung)
verkehrt. Pflanzen und Tiere sind Nahrungs-mittel,
Landschaften werden willkürlich "umgebaut",
zubetoniert oder werden erhalten, weil sie einen Frei-zeitwert
haben. Für den Menschen und seine Beziehungen gelten die
gleichen Maßstäbe: Nur die Aspekte einer Person werden
anerkannt, die Leistung und Nutzen erbringen. Die Befreiung von der Furcht vor Göttern und einer bedrohlichen Natur hat den Menschen an die Ufer der Sinnlosigkeit geführt, was eine eigene Form von "existenzieller Angst" fördert. Zudem zeigt sich zunehmend die Kehrseite des wissenschaftlichen Fortschritts: Unsere eigene Leistung hat uns an den Rand einer planetarischen Katastrophe geführt. Das Bewußtsein davon bildet den Hintergrund für die Zunahme an - gegenwartstypischen -Vernichtungsängsten. Wir können diesen Sinnverlust
nicht einfach rückgängig machen, die Welt wieder "verzaubern",
unsere Verantwortung an einen oder mehrere Götter "zurückgeben".
Alle Versuche und Moden dieser Art (Astrologie,
Jugendreligionen, New Age u.a.) führen auf längere
Sicht - dies zeigen uns täglich jugendliche Patienten -
in eine um so tiefere Leere. Welche Sphäre, welcher Ort
ist es aber, wo die Grunderfahrung eines "Sinnes"
gemacht werden kann, den wir nicht produzieren müssen,
sondern der uns geschenkt wird. Diese ist zuerst -
auch unter dem Gesichtspunkt einer Vorbeugung gegen
Suchterkrankungen - die ungestörte frühkindliche
Erfahrung der Geborgenheit, des Urvertrauens. Ein Kind
sollte um seiner selbst willen geliebt und anerkannt
werden und nicht, weil es besonders schön ist, besonders
früh "sauber" ist oder besonders früh
sprechen kann. Im Urvertrauen wurzelt der Sinn- und
Sinneshunger auf die Menschen und Dinge der Welt. Wer die
Erfahrung gemacht hat, selbst, so wie er ist, etwas wert
zu sein, kann sich auch an die Dinge verlieren, im Spiel
auf-gehen. |
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Dieser geschenkte
Sinn, der sich durch die Annahme des Kindes in seiner
Gesamtheit als Person ergibt, ist durch die
gegenwartstypischen Vernichtungsängste, denen die Eltern
ausgesetzt sind, gefährdet. Die Eltern begegnen der
anonymen Bedrohung dort, wo sie beherrschbar erscheint: nämlich
in ihren eigenen aggressiven Persönlichkeitsanteilen
und denen ihrer Kinder. Die angsterzeugende Aggressivität
muß schon im Ansatz abgewehrt werden. Hierfür gibt es
verschiedene Formen. Die bekannteste ist die Verdrängung,
d.h., die eigene Aggression wird in den Keller des Unbewußten
verbannt. Die Schlösser an den Kellertüren können aber
in sog. Versuchungssituationen brechen - z. B. auf der
linken Spur der Autobahn, im Fußballstadion und ähnlichen
Situationen, in denen sich urplötzlich zerstörerische
Gewalt entladen kann. Von vornherein weitgehend verdrängt,
bricht die Aggression mit voller Urgewalt impulshaft
durch; sie hatte nie die Chance, "verfeinert",
sublimiert z. B. in kreative Neugier oder soziales
Engagement verwandelt zu werden. Die Verdrängung
bedeutet aber auch einen Abzug von Energie für die
autonome lebensgestaltende Aktivität: Wenn ich im Keller die Türen zuhalten muß, kann ich mir oben keine schöne Wohnung einrichten. Umgangssprachlich begegnen wir dem Vorgang der Verdrängung in Formulierungen wie "etwas (einen zornigen Gedanken) in sich hineinfressen", "die Wut herunterschlucken" oder "etwas zum Kotzen finden". Damit ergibt sich auch schon ein Bezug zu der o.g. Symptomatik der Eß-Brechkrankheiten (Bulimarexie). Eine weitere Form der Abwehr ist die Projektion: Was ich bei mir nicht akzeptieren kann, schreibe ich z. B. dem Ehepartner zu und verurteile es an diesem. Nicht ich bin dann streitsüchtig, der Partner, die Partnerin ist wieder mal schuld an dem letzten Krach! Sofern der Angstpegel bei Eltern
angestiegen ist - so unsere These -, wird eine vermehrte
Abwehr der Aggressivität im Vergleich zu früher
erforderlich, gleichzeitig sind die Kinder in diese
Abwehr miteinbezogen. Dies bedeutet eine Verbannung
wesentlicher Selbstaspekte des Kindes. Es wird als ganze
Person nur unter der Bedingung geleisteter Abwehrarbeit
akzeptiert. Unangepaßte Spontaneität oder Aggressivität
des Kindes werden aus der Sphäre des Urvertrauens
ausgeschlossen. Der Sinn wird nicht geschenkt, sondern
mit der Verbannung von wichtigen Persönlichkeitsaspekten
bezahlt. Damit werden das Selbsterleben und die
Entfaltungsmöglichkeit des Menschen beeinträchtigt, es
entwickelt sich eine erhebliche Selbstwertproblematik im
Sinne einer narzißtischen Störung. |
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Leistung und Selbstausplünderung |
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Bereits vor 70 Jahren
schrieb Freud in "Das Unbehagen in der Kultur":
"Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der
Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren
Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann
auszurotten. Sie wissen das, daher ist es ein gut Stück
ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer
Angststimmung." Was damals die Erwachsenen als Angst und Unruhe bedrängte, trifft heute die Kinder in der frühesten Phase ihrer Selbst-Entwicklung. Sie müssen die Angstabwehr der Eltern um den Preis des Verlustes eigener, lustvoller Spontaneität mittragen. Im immer kleiner werdenden Familienverband "leisten" Kinder nicht nur Abwehrarbeit; Leistung in allen Formen gewinnt geradezu magischen Charakter: "Wenn wir nur tüchtig sind oder zumindest einer aus unserer Familie tüchtig ist, dann werden wir schon die Zukunft insgesamt meistern." Das Erleben der eigenen Ohnmacht wird durch den Nachweis der Leistungsfähigkeit auf einem Teilgebiet auf ein erträgliches Maß reduziert. Da mit der Vergötzung der Leistung die Angst nur abgewehrt, nicht aber sinnvoll durchgearbeitet wird, kennt sie kein Maß und keine Grenze. Jugendliche entwickeln so ein selbstüberforderndes Ichideal, dem sie nie entsprechen können, oder reagieren mit mehr oder weniger massiver Verweigerung. Zur Angstabwehr auch der Eltern ausgeplündert, antworten sie mit vermehrter Unruhe, Aggressivität und Dissozialität, später mitunter mit Apathie und Lustlosigkeit. Neben der Gruppe derer, die sich
trotz aller Anstrengungen schuldig fühlen, zuwenig zu
leisten (z. B. in den "helfenden Berufen") und
denen, die Leistung als sinnlos verweigern ("Null-Bock-Syndrom"),
gibt es - idealtypisch - noch eine weitere: Hier ist der
drängende Wunsch, "etwas vom Leben haben zu wollen",
mit einer fremdbestimmten Leistungsbereitschaft verknüpft.
Mit einem hohen Grad an Selbstausplünderung arbeiten und
schuften die Mitglieder dieser Gruppe für das "Eigentliche":
Familie, Hausbau, Urlaub, Video- und Musikanlagen. Je stärker
die fremdbestimmte Selbstausbeutung ist, desto größer
ist die Gefahr, daß die unterdrückte Spontaneität
situativ durchbricht. Wir kennen dies z. B. von LKW-Fahrern,
die auf der Autobahn plötzlich den Wunsch verspüren, in
die Leitplanken oder über das Brückengeländer zu
fahren. Ähnlich drang- und impulsivhaft sind ihre
sexuellen Empfindungen. In diesen Situationen wird
deutlich, daß das o.g. "Eigentliche" nur ein
fader Ersatz ist, ein "Suchtmittel", das nach
immer mehr ruft, ohne Befriedigung zu geben. |
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Mit Blick auf die
Suchtstruktur fällt auf, daß der Wunsch nach mehr auch
dann bestehen bleibt, wenn sich das Individuum durch sein
Suchtverhalten selbst schädigt. Die Fernfahrer wollen
weiterfahren, die Spiel- und Kaufsüchtigen machen
weiter, trotz eines Berges von Schulden. Dieses
Kennzeichen findet sich auch in unserer
Gegenwartsdiagnose: Das selbstzerstörerische Potential
unserer technisch beherrschten Zivilisation, das uns täglich
in den Medien begegnet, hat unsere Technikgläubigkeit
kaum beeinflußt. Vernichtungsängste korrespondieren mit
Allmachtsgefühlen - "HighTech" ist die
Zauberformel, mit der wir technisch die Folgen der
Technik in den Griff nehmen. Sie bietet den magisch-illusionären
Schein von Sicherheit. Es werden z. B. Superautos - wahre
"Potenzschlitten" - natürlich mit einem "Sicherheitspaket"
verkauft. Mehr noch: die ohnmächtige in aktiver und
konstruktiverwelt- und Selbstbegegnung entfalten. Dieses Geschehen ist nicht erst der Fach-Psychotherapie vorbehalten. Schon in einem Gespräch im Sinne eines Teilstückes einer vertieften Anamnese kann der/die Patient/in lernen - sofern wir hierfür Raum lassen -, ein Bild von sich zu gestalten. Lebensgeschichte spielerisch und phantasievoll wieder in die eigenen Hände zu nehmen, begründet so auch die Möglichkeit zu Erfahrung, die wieder satt macht. Sie bleibt nicht mehr passiv erlittenes, sinnloses Schicksal. Das gleiche gilt für alles andere Gestalten mit den verschiedensten Materialien und Medien - Ton, Farbe und Papier, Klänge -, ohne daß das Gestaltete interpretiert werden müßte. Der Prozeß, nicht das Produkt, ist dann das Entscheidende. Um diesen Prozeß zu unterstützen
und zu begleiten, müssen der Arzt und Angehörige
anderer helfender Berufe einschließlich der
Krankenschwestern und -pfleger jedoch selbst spielen und
ihrer Phantasie Vertrauen schenken können. |
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Frankl,V. E.: Der Mensch
und die Suche nach Sinn. Freiburg, 1976 |
Anschrift für
die Verfasser: Dr. med. Eckhard Schiffer,
Leicht überarbeitete
Fassung des gleichnamigen Aufsatzes in der |
Und gegen die Leere hilft Phantasie &Kreativität: |