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Laurent Elie Badessi Female & Wrinkles 1999

An den Ufern der Sinnlosigkeit
Hintergründe von und Motive für Suchterscheinungen

Von Dr. med. Eckhard Schiffer &
Dipl.-Psych. Rudolf Süsske

   Bücher von Eckhard Schiffer bei:
          

Das Thema Sucht und Suchtverhalten erscheint heute in der Öffentlichtkeit zumeist als makabres Zählen von Drogentoten und im Zusammenhang mit dem AlDS-Risiko bei Drogenabhängigen.
Wir wollen hier unser Augenmerk auf die Hintergründe, d. h. gegenwartstypische Motive und Persönlichkeitsstrukturen von süchtigen Menschen richten.
In den letzten Jahren hat die Zahl der Patienten/innen mit Eß-Brechkrankheiten und Spielsüchten neben der der Drogensüchtigen stark zugenommen. Der Begriff Sucht wird in immer neuen Handlungs- und Erlebensbereichen verortet: Freßsucht, Magersucht, Kaufsucht, Spielsucht, Reisesucht und vieles andere mehr.

Das Gemeinsame der verschiedenen Süchte:
ein "entfremdeter Hunger"
Sinnverlust in unserer Gegenwart
Angst und Selbstverbannung
Leistung und Selbstausplünderung
Sucht und Selbstzerstörung
Literatur

Das Gemeinsame der verschiedenen Süchte:
ein "entfremdeter Hunger"


Die Felder der Sucht variieren, durchgängig bleibt aber deren Struktur: ein Hunger (wörtlich und bildlich) nach immer "mehr" und intensiveren Reizen, jedoch begleitet von dem Gefühl, dabei nie satt zu werden. Das ganze Erleben dreht sich zunehmend um das Symptom - z.B. das Beschaffen, Verschlingen und Erbrechen von Nahrung oder das Spielen am Glücksspielautomaten. Die anderen Lebens- und Erfahrungsbereiche bleiben blaß und schal.

Renate, eine Patientin mit Eßproblemen, formulierte dies einmal so: "Hier ist eine unheimliche Leere, nichts läßt sich mehr denken, nichts macht mehr Spaß. Nur wenn ich die Klamotten (= Eßwaren) mir reinziehe, dann spüre ich so etwas wie Erlösung, schäme mich aber hinterher um so mehr, fühle mich schlecht und dreckig."

Begreifen wir diese Störungen als unbefriedigten, "entfremdeten Hunger" nach Erfahrung, so erscheinen auch andere Krankheitsbilder in einem neuen Zusammenhang. Es häuft sich die Zahl jugendlicher Erwachsener, die mit Antriebs-, Phantasiearmut und fehlender Zukunftsorientierung in die Sprechstunde kommen. Ebenso klagen Lehrer/innen über mangelnde Motivation und Lethargie in den höheren Klassen. Jüngere Schüler zeigen häufiger ungehemmte Aggressionsausbrüche gegen Mitschüler und Gegenstände. Gemeinsam ist diesen beiden Gruppen ein Mangel an Ausdauer und Konzentration, mit der auffälligen Ausnahme im Kunst- und Werkunterricht.

Diejenigen, die ihren "Hunger" nicht mit Alkohol, Tabletten, Musik o.ä. betäuben, greifen zu extremen Reizerfahrungen, um dem faden, reglementierten Alltag zu entkommen: mit Auto oder Motorrad über die Autobahn rasen, den "Kick" einer Höchstpunktzahl am Spielautomaten erleben oder das schockierendste Horror-Video ohne Abwenden sich "reinziehen". Wie sich die Symptome auch äußern, "lärmend" oder "depressiv", stets bleibt die Erfahrung unbefriedigend, ruft nach mehr. In der Sprache von Jugendlichen zeigen sich eine Mischung aus Unbestimmtheit und der Wunsch nach dem Außergewöhnlichen: z.B. ein Musikerlebnis war "irgendwie total gut" oder "ätzend", "grell", "wahnsinnig".

Die klinische Erfahrung hat uns gelehrt, daß Suchtmittel deshalb nicht befriedigen können, weil sie "Ersatzcharakter" haben. Dies hält die Tendenz zum "Immer-Wieder" und "Immer-Mehr" aufrecht. Freßattacken, Glücksspiel u. a. stehen aber nicht mehr für einen Ersatz an sexueller Erregung, sondern tauchen zunehmend im Zusammenhang mit einem gestörten Selbstwertgefühl auf. Sich selbst als ganze Person zu spüren, anerkannt zu wissen; für sich einen Sinn im Leben zu finden - alle diese Motive finden sich bei diesem verzweifelten, d.h. süchtigen, Verhalten. Wir stellen uns hier die Frage, ob und welche Gründe es für die Zunahme eines dergestalt entfremdeten Hungers geben mag, die über die individuelle Lebensgeschichte hinaus auf Gemeinsamkeiten gesellschaftlichen Ursprunges verweisen.

Sinnverlust in unserer Gegenwart


Phantasie- und Hoffnungslosigkeit, fehlender Schwung und mangelnde Initiative lassen sich als Reaktionsformen auf eine Welt interpretieren, die von Leistung, Wachstum und Fortschritt geprägt ist, ohne daß der "Sinn" dieser Maximen so recht deutlich wird: Warum und wofür sollen wir immer mehr leisten, ist Wachstum für sich schon sinnvoll, wohin führt der Fortschritt? Wir "haben" immer mehr an Gütern und Möglichkeiten, wissen aber immer weniger, wer wir "sind" (E. Fromm). Die Verbindlichkeit vonwerten des "richtigen Lebens" ist zunehmend geschwunden. Wissenschaft und Technik haben die Welt und Natur "entzaubert": Sie haben uns gezeigt, daß die Erde nicht mehr im Zentrum des Universums steht, und den Menschen an den (vorläufigen) Endpunkt einer "sinn"-losen Evolution gestellt, in der kein göttlicher Plan, sondern das Recht des Stärkeren herrscht. Der Mensch hat sich vom Zwang der Autoritäten scheinbar gelöst und sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt, er muß in sich selbst einen Sinn suchen (Autonomie) bzw. für sich und die Welt den Sinn "herstellen", was ihn aber überfordert. Auf sich selbst gestellt, ist es ihm nicht möglich, der Schöpfung einen "Sinn" zu geben, er fragt nur noch, inwieweit die Natur ihm nützlich ist. Damit wird aber Sinn in Zweck (Funktion und Leistung) verkehrt. Pflanzen und Tiere sind Nahrungs-mittel, Landschaften werden willkürlich "umgebaut", zubetoniert oder werden erhalten, weil sie einen Frei-zeitwert haben. Für den Menschen und seine Beziehungen gelten die gleichen Maßstäbe: Nur die Aspekte einer Person werden anerkannt, die Leistung und Nutzen erbringen.

Die Befreiung von der Furcht vor Göttern und einer bedrohlichen Natur hat den Menschen an die Ufer der Sinnlosigkeit geführt, was eine eigene Form von "existenzieller Angst" fördert. Zudem zeigt sich zunehmend die Kehrseite des wissenschaftlichen Fortschritts: Unsere eigene Leistung hat uns an den Rand einer planetarischen Katastrophe geführt. Das Bewußtsein davon bildet den Hintergrund für die Zunahme an - gegenwartstypischen -Vernichtungsängsten.

Wir können diesen Sinnverlust nicht einfach rückgängig machen, die Welt wieder "verzaubern", unsere Verantwortung an einen oder mehrere Götter "zurückgeben". Alle Versuche und Moden dieser Art (Astrologie, Jugendreligionen, New Age u.a.) führen auf längere Sicht - dies zeigen uns täglich jugendliche Patienten - in eine um so tiefere Leere. Welche Sphäre, welcher Ort ist es aber, wo die Grunderfahrung eines "Sinnes" gemacht werden kann, den wir nicht produzieren müssen, sondern der uns geschenkt wird. Diese ist zuerst - auch unter dem Gesichtspunkt einer Vorbeugung gegen Suchterkrankungen - die ungestörte frühkindliche Erfahrung der Geborgenheit, des Urvertrauens. Ein Kind sollte um seiner selbst willen geliebt und anerkannt werden und nicht, weil es besonders schön ist, besonders früh "sauber" ist oder besonders früh sprechen kann. Im Urvertrauen wurzelt der Sinn- und Sinneshunger auf die Menschen und Dinge der Welt. Wer die Erfahrung gemacht hat, selbst, so wie er ist, etwas wert zu sein, kann sich auch an die Dinge verlieren, im Spiel auf-gehen.

Angst und Selbstverbannung


Dieser geschenkte Sinn, der sich durch die Annahme des Kindes in seiner Gesamtheit als Person ergibt, ist durch die gegenwartstypischen Vernichtungsängste, denen die Eltern ausgesetzt sind, gefährdet. Die Eltern begegnen der anonymen Bedrohung dort, wo sie beherrschbar erscheint: nämlich in ihren eigenen aggressiven Persönlichkeitsanteilen und denen ihrer Kinder. Die angsterzeugende Aggressivität muß schon im Ansatz abgewehrt werden. Hierfür gibt es verschiedene Formen. Die bekannteste ist die Verdrängung, d.h., die eigene Aggression wird in den Keller des Unbewußten verbannt. Die Schlösser an den Kellertüren können aber in sog. Versuchungssituationen brechen - z. B. auf der linken Spur der Autobahn, im Fußballstadion und ähnlichen Situationen, in denen sich urplötzlich zerstörerische Gewalt entladen kann. Von vornherein weitgehend verdrängt, bricht die Aggression mit voller Urgewalt impulshaft durch; sie hatte nie die Chance, "verfeinert", sublimiert z. B. in kreative Neugier oder soziales Engagement verwandelt zu werden. Die Verdrängung bedeutet aber auch einen Abzug von Energie für die autonome lebensgestaltende Aktivität:

Wenn ich im Keller die Türen zuhalten muß, kann ich mir oben keine schöne Wohnung einrichten. Umgangssprachlich begegnen wir dem Vorgang der Verdrängung in Formulierungen wie "etwas (einen zornigen Gedanken) in sich hineinfressen", "die Wut herunterschlucken" oder "etwas zum Kotzen finden". Damit ergibt sich auch schon ein Bezug zu der o.g. Symptomatik der Eß-Brechkrankheiten (Bulimarexie).

Eine weitere Form der Abwehr ist die Projektion: Was ich bei mir nicht akzeptieren kann, schreibe ich z. B. dem Ehepartner zu und verurteile es an diesem. Nicht ich bin dann streitsüchtig, der Partner, die Partnerin ist wieder mal schuld an dem letzten Krach!

Sofern der Angstpegel bei Eltern angestiegen ist - so unsere These -, wird eine vermehrte Abwehr der Aggressivität im Vergleich zu früher erforderlich, gleichzeitig sind die Kinder in diese Abwehr miteinbezogen. Dies bedeutet eine Verbannung wesentlicher Selbstaspekte des Kindes. Es wird als ganze Person nur unter der Bedingung geleisteter Abwehrarbeit akzeptiert. Unangepaßte Spontaneität oder Aggressivität des Kindes werden aus der Sphäre des Urvertrauens ausgeschlossen. Der Sinn wird nicht geschenkt, sondern mit der Verbannung von wichtigen Persönlichkeitsaspekten bezahlt. Damit werden das Selbsterleben und die Entfaltungsmöglichkeit des Menschen beeinträchtigt, es entwickelt sich eine erhebliche Selbstwertproblematik im Sinne einer narzißtischen Störung.

Leistung und Selbstausplünderung


Bereits vor 70 Jahren schrieb Freud in "Das Unbehagen in der Kultur": "Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ist es ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung."

Was damals die Erwachsenen als Angst und Unruhe bedrängte, trifft heute die Kinder in der frühesten Phase ihrer Selbst-Entwicklung. Sie müssen die Angstabwehr der Eltern um den Preis des Verlustes eigener, lustvoller Spontaneität mittragen. Im immer kleiner werdenden Familienverband "leisten" Kinder nicht nur Abwehrarbeit; Leistung in allen Formen gewinnt geradezu magischen Charakter: "Wenn wir nur tüchtig sind oder zumindest einer aus unserer Familie tüchtig ist, dann werden wir schon die Zukunft insgesamt meistern." Das Erleben der eigenen Ohnmacht wird durch den Nachweis der Leistungsfähigkeit auf einem Teilgebiet auf ein erträgliches Maß reduziert. Da mit der Vergötzung der Leistung die Angst nur abgewehrt, nicht aber sinnvoll durchgearbeitet wird, kennt sie kein Maß und keine Grenze. Jugendliche entwickeln so ein selbstüberforderndes Ichideal, dem sie nie entsprechen können, oder reagieren mit mehr oder weniger massiver Verweigerung. Zur Angstabwehr auch der Eltern ausgeplündert, antworten sie mit vermehrter Unruhe, Aggressivität und Dissozialität, später mitunter mit Apathie und Lustlosigkeit.

Neben der Gruppe derer, die sich trotz aller Anstrengungen schuldig fühlen, zuwenig zu leisten (z. B. in den "helfenden Berufen") und denen, die Leistung als sinnlos verweigern ("Null-Bock-Syndrom"), gibt es - idealtypisch - noch eine weitere: Hier ist der drängende Wunsch, "etwas vom Leben haben zu wollen", mit einer fremdbestimmten Leistungsbereitschaft verknüpft. Mit einem hohen Grad an Selbstausplünderung arbeiten und schuften die Mitglieder dieser Gruppe für das "Eigentliche": Familie, Hausbau, Urlaub, Video- und Musikanlagen. Je stärker die fremdbestimmte Selbstausbeutung ist, desto größer ist die Gefahr, daß die unterdrückte Spontaneität situativ durchbricht. Wir kennen dies z. B. von LKW-Fahrern, die auf der Autobahn plötzlich den Wunsch verspüren, in die Leitplanken oder über das Brückengeländer zu fahren. Ähnlich drang- und impulsivhaft sind ihre sexuellen Empfindungen. In diesen Situationen wird deutlich, daß das o.g. "Eigentliche" nur ein fader Ersatz ist, ein "Suchtmittel", das nach immer mehr ruft, ohne Befriedigung zu geben.

Sucht und Selbstzerstörung


Mit Blick auf die Suchtstruktur fällt auf, daß der Wunsch nach mehr auch dann bestehen bleibt, wenn sich das Individuum durch sein Suchtverhalten selbst schädigt. Die Fernfahrer wollen weiterfahren, die Spiel- und Kaufsüchtigen machen weiter, trotz eines Berges von Schulden. Dieses Kennzeichen findet sich auch in unserer Gegenwartsdiagnose: Das selbstzerstörerische Potential unserer technisch beherrschten Zivilisation, das uns täglich in den Medien begegnet, hat unsere Technikgläubigkeit kaum beeinflußt. Vernichtungsängste korrespondieren mit Allmachtsgefühlen - "HighTech" ist die Zauberformel, mit der wir technisch die Folgen der Technik in den Griff nehmen. Sie bietet den magisch-illusionären Schein von Sicherheit. Es werden z. B. Superautos - wahre "Potenzschlitten" - natürlich mit einem "Sicherheitspaket" verkauft. Mehr noch: die ohnmächtige in aktiver und konstruktiverwelt- und Selbstbegegnung entfalten.

Dieses Geschehen ist nicht erst der Fach-Psychotherapie vorbehalten. Schon in einem Gespräch im Sinne eines Teilstückes einer vertieften Anamnese kann der/die Patient/in lernen - sofern wir hierfür Raum lassen -, ein Bild von sich zu gestalten. Lebensgeschichte spielerisch und phantasievoll wieder in die eigenen Hände zu nehmen, begründet so auch die Möglichkeit zu Erfahrung, die wieder satt macht. Sie bleibt nicht mehr passiv erlittenes, sinnloses Schicksal. Das gleiche gilt für alles andere Gestalten mit den verschiedensten Materialien und Medien - Ton, Farbe und Papier, Klänge -, ohne daß das Gestaltete interpretiert werden müßte. Der Prozeß, nicht das Produkt, ist dann das Entscheidende.

Um diesen Prozeß zu unterstützen und zu begleiten, müssen der Arzt und Angehörige anderer helfender Berufe einschließlich der Krankenschwestern und -pfleger jedoch selbst spielen und ihrer Phantasie Vertrauen schenken können.

Literatur (Auswahl)


Frankl,V. E.: Der Mensch und die Suche nach Sinn. Freiburg, 1976
Richter, H. E.: Der Gotteskomplex. Reinbek, 1979
Schiffer, E.: Der entfremdete Hunger -Weltzerstörende Unersättlichkeit als verzweifelte Suche nach Sinn und Geborgenheit. Basel, 1990

Winnicott, D. W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart, 1979

Anschrift für die Verfasser: Dr. med. Eckhard Schiffer,
Chefarzt der Abt. für Psychotherapie und Psychosomatik
(Psychiatrie II), Christliches Krankenhaus, Goethestraße 10,
4570 Quakenbrück.
Oder mailen Sie einfach an:
webmaster@suesske.de


Bücher von Eckhard Schiffer bei
:

Leicht überarbeitete Fassung des gleichnamigen Aufsatzes in der
DEUTSCHE(N) KRANKENPFLEGE- ZEITSCHRIFT 4/1991


U
nd gegen die Leere hilft
Phantasie &Kreativität:

Die Kraft der Phantasie
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