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Phänomenologisches Vagabundieren im Gehäuse der "Theorie des kommunikativen Handelns"

Zur Logik des theoretischen Diskurses:
WAHRHEIT
J. Habermas: "Wahrheitstheorien" (1972)*

Rudolf Süsske

 

"Die Irrationalität der Herrschaft, die heute zur kollektiven Lebensgefahr geworden ist, konnte nur durch eine politische Willensbildung bezwungen werden, die sich an das Prinzip allgemeiner und herrschaftsfreier Diskussion bindet.
Habermas (1965)

In diesen Sätzen kündigt sich an, was man die "sprachanalytische Wende" bei Habermas nennen könnte. Im Gegensatz zur älteren "Kritischen Theorie" (Horkheimer, Adorno) ist für Habermas eine Erkenntnis, die aufs Ganze geht (Totalität) nicht akzeptabel. Normative Strukturen folgen seiner Meinung nach einer eigenen Logik, relativ unabhängig von der gesellschaftlichen Produktion. Nur so sind für ihn revolutionäre Prozesse erklärbar. Wären normative Strukturen, somit das kommunikationstheoretisch erschlossene Bewußtsein der Individuen deckungsgleich mit Produktions-, d.h. Systemstrukturen, ließe sich Widerspruch, Revolution nicht begreifen.

Normative Systeme setzen Sprache voraus und in der Struktur der menschlichen Rede ist ein Interesse an Mündigkeit bereits hinterlegt. Es steckt darin der "Vorschein" einer Lebensform, die wir "herkömmlicherweise mit den Ideen der Wahrheit, der Freiheit und der Gerechtigkeit zu fassen suchen" (1971, S.139). Es zeigt sich hier, daß Habermas seinem Programm treu bleibt, aber ein neues begriffliches Instrumentarium verwendet. Damit Kommunikation überhaupt funktioniert, setzen wir voraus, daß der Andere ein zurechnungsfähiges Subjekt ist, das weiß was es tut, dies nötigenfalls begründen kann und das seine Ziele intentional vertreten kann. Wir erheben, wie Habermas es ausdrückt, damit vier Geltungsansprüche: den Anspruch auf Verständlichkeit, auf Wahrheit, auf Wahrhaftigkeit und auf Richtigkeit.

Verständlichkeit ist Basisvoraussetzung für jede gelingende Kommunikation, erst wenn sie gewährleistet ist können andere Geltungs-ansprüche eingelöst werden.
Sodann erhebt der Sprecher in jedem Sprechakt den Anspruch, daß seine Aussagen, das worüber gesprochen wird, wahr sind. Wird dieser Anspruch problematisiert, so kann die Kommunikation abgebrochen werden, mit Zwang durchgesetzt oder ein theoretischer Diskurs (s.u.) eröffnet werden.
Ebenfalls muß unterstellt werden, daß die geäußerten Absichten (Intentionen) wahrhaftig sind. Ob der Andere mich täuscht oder nicht kann in einem Diskurs nicht entschieden werden. Vertrauen erwächst nur im Verlauf von kommunikativen Handlungen, so daß ich erfahren kann, ab sich seine Handlungen an seinen Absichten messen lassen können.
Auch kann ein Sprechakt in Bezug auf einen anerkannten normativen Kontext richtig oder angemessen sein. Wird dieser Normenkontext problematisiert, so ergeben sich wieder die Alternativen des Kommunikationsabbruches, der zwanghaften Durchsetzung oder dem Eintritt in einen Diskurs, jetzt dem praktischen. Dies läßt sich wie folgt schematisch zusammenfassen:

Tafel der Geltungsansprüche: (1973, S.222)

Bedingung der Kommunikation

Geltungsansprüche

nicht-
diskursiv
- - - - - - - diskursiv

Korrespondierende Intentionen Gewißheits-
erlebnis
Erfahrungsgrundlage
Verständlichkeit     etwas verstehen nicht-sinn-
liche Gewißheit
Zeichenwahrnehmung
  Wahrhaftigkeit   jemandem glauben Glaubensge-
wißheit
Interaktionserfahrungen mit Personen und deren Äußerungen
    Richtigkeit von etwas überzeugt sein x keine unmittelbare
    (Aussagen-)
Wahrheit
etwas wissen x

keine unmittelbare

    X etwas sehen, wahrnehmen sinnliche Gewißheit Ding-Ereignis-Wahrneh-
mung
     

Im kommunikativen Handeln (Interaktion) werden die Geltungsansprüche naiv unterstellt, in theoretischen oder praktischen Diskursen werden die jeweiligen Geltungsansprüche problematisiert. Im Folgenden steht der theoretische Diskurs und der Geltungsanspruch der Wahrheit im Vordergrund.

Der Diskurs zeichnet sich durch die Virtualisierung von Handlungszwängen, sowie dem Außerkraftsetzen aller Motive aus. Ausnahmen sind hierbei nur der Zwang, sich dem besseren Argument zu beugen und das Motiv, einen rational begründbaren Konsens zu erzielen. Hierin sind wesentlich Begriffe der "Konsensustheorie der Wahrheit" angesprochen, die ich später erläutern werde. Hiermit hängt auch die Bestimmung zusammen, daß der Diskurs erfahrungsfrei sein sollte. Der Konsens der Diskursteilnehmer sollte jedoch nicht nur für diese gelten, sondern auch objektiv gültig sein. Diese Interaktionsform, frei von verzerrenden Einflüssen, nennt Habermas ideale Sprechsituation.
Wenn wir in einen Diskurs eintreten, unterstellen wir sie notwendigerweise, wenngleich sich zumeist zeigt, daß diese Unterstellung kontrafaktisch ist. Das Feststellen des Defizites, dh. daß wir uns z.B. von Handlungszwängen oder inneren Zwängen nicht freimachen können, bemißt sich an der Norm, an dem o.g. Ideal. Somit ist die Unterstellung der "idealen Sprechsituation" in Diskursen, überhaupt in jedem Sprechakt notwendig eine "operativ wirksame Antizipation" oder wie Habermas sagt, ein "konstitutiver Schein": weder empirisches Phänomen, noch bloßes Konstrukt, sondern wirksame Fiktion. Erhielte dieser "konstitutive Schein" gesellschaftliche Realität, so wäre Gesellschaft von irrationaler Herrschaft befreit.

Kommen wir zum theoretischen Diskurs zurück. Es mag verwundern, daß er "erfahrungsfrei" sein soll. Für Habermas kann das Erfahrungssubjekt kein transzendentalen Ego mehr sein, sondern ein empirisches Subjekt, das sich entwickelt, indem es Welt bearbeitet und mit anderen Subjekten interagiert. Erfahrung ist an "anthropologisch tief sitzende" Erkenntnisinteressen gebunden. Kognitive Schemata organisieren den Objektbereich der "Welt der Gegenstände", vom instrumentellen Erkenntnisinteresse geleitet. Moralische Schemata organisieren den Objektbereich der "Welt sprechender Individuen", vom kommunikativen Erkenntnisinteresse bestimmt. Damit die organisierte Erfahrung auch formuliert werden kann, bedarf es sematischer Kategorien, die als propositionaler Gehalt in Sprechakten auftauchen.
Um eine erfolgreiche Referenz auf Gegenstände in der Welt zu gewährleisten, bedarf es mindestens der Grundbegriffe Substanz, Raum, Zeit und Kausalität.
Für die Welt sprechender Individuen sind dies: Ich-Identität, sozialer Raum bzw. Zeit und Intentionalität, d.h. an die Stelle der Ursache tritt das Motiv.
Dies kann nur eine Skizze sein. Es zeigt sich aber, daß Habermas eine Konstitutionstheorie der Erfahrung zu erarbeiten sucht. Dach geschieht dies nicht mehr rein philosophisch, wie bei Kants transzendental- philosophischer Analyse, sondern empirisch, angelehnt an Untersuchungen Piagets, Kohlbergs, Chomskys u.a. An die Stelle der "Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" bei Kant tritt die "rationale Rekonstruktion von Gattungskompetenzen".

Wie kann aber ein interessegeleitete Erfahrung den Anspruch auf objektiv gültige Wahrheit erheben?
Habermas setzt sich gegen eine pragmatische Fassung der Wahrheit, die sich lediglich am Handlungserfolg orientiert ab, andererseits auch gegen Kant, für den die Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung gleichzeitig auch die Bestimmung der Wahrheitbedingungen theoretischer Sätze war. Dh. im ersten Fall ist der Anspruch auf Geltung zugunsten eines Wahrheitsrelativismus aufgegeben, im zweiten verbürgt die Genesis zugleich die Geltung. Habermas trennt nun die Theorie der Konstitution von Gegenständen möglicher Erfahrung von der argumentativen Einlosung der Geltungsansprüche im Diskurs.
Warum der Diskurs erfahrungsfrei ist nähert sich der Aufklärung. Diskursfähig sind Argumente, nicht Erfahrungen. Dies muß präzisiert werden.
Nach der "Konsensustheorie der Wahrheit" ist die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen die potentielle Zustimmung aller Anderen, einem bestimmten Gegenstand ein bestimmtes Prädikat zuzusprechen. Demgegenüber ist für die "Korrespondenztheorie der Wahrheit" ein Satz/ Aussage/ Behauptung dann und nur dann wahr, wenn der Sachverhalt, der durch den Satz zum Ausdruck gebracht wird, existiert. Ein Sachverhalt der besteht/ existiert ist eine Tatsache, d.h. Wahrheit ist durch Übereinstimmung von Satz und Tatsache definiert.
Doch sind Tatsachen nicht etwas in der Welt wie Gegenstände - Tatsachen sind sprachabhängig. Habermas folgert, das diese Theorie aus dem sprachlogischen Gefängnis (Wittgenstein) nicht herausspringen kann und somit den eigenen Ansprüchen nicht genügt.

Mit Strawson trennt er Tatsachen von Erfahrungsgegenständen und Ereignissen. Erfahrungsgegenstände sind das, wovon wir etwas behaupten, worüber wir etwas aussagen. Mit Gegenständen mache ich Erfahrungen, sie sind etwas in der Welt.
Tatsachen dagegen sind das, was wir berechtigterweise behaupten dürfen, dh. ich behaupte sie.
Tatsachen kommen im Diskurs zur Sprache, dh. sie sind in Bezug auf ihren Wahrheitsanspruch problematisierte Erfahrungen. Innerhalb des kommunikativen Handelns beziehen wir uns dagegen auf Erfahrungsgegenstände.

Vielleicht wäre noch von Interesse, was Habermas zu Gewißheitserlebnissen (z.B. der Gewißheit einer Wahrnehmung) schreibt. Diese sind nicht wahrheitsfähig. Geltungsansprüche unterscheiden sich von Gewißheiten durch ihre Intersubjektivität. Eine Wahrnehmung ist immer nur einem einzelnen Individuum gewiß. Zwar kann diese von anderen Individuen geteilt werden, aber dazu muß das Gewißheitserlebnis ausgesprochen werden und das heißt zugleich, es wird eine Behauptung aufgestellt, deren Geltungsanspruch als problematisierter nur diskursiv eingelöst werden kann. Erfahrungen können Behauptungen stützen, einlösen läßt sich ein Geltungsanspruch nur durch Argumentation. Die methodische Inanspruchnahme von Erfahrung z.B. im Experiment bleibt abhängig von der Interpretation.

Wie nun die Einlösung von Geltungsansprüchen durch Argumentation im Diskurs geschieht, soll in einer "Logik des Diskurses" beschrieben werden.
Der Ausgang eines Diskurses kann weder durch logischen noch empirischen Zwang entschieden werden, sondern durch den Zwang des besseren Arguments, sofern der Diskurs ideal ist, dh. unverzerrte Kommunikation darstellt. Zur formalen Bestimmung des Diskurses übernimmt Habermas das Modell Toulmins.
Für diesen besteht ein Argument aus einer Kette von Sprechakten und kann definiert werden als eine Begründung, die uns rational motivieren soll, den Geltungsanspruch einer Behauptung anzuerkennen. Der Übergang von einem Element der Rede zum anderen kann weder logisch noch empirisch begründet werden. Daraus folgt, daß die Modalitäten in der "Diskurslogik" nicht die der logischen Form sind (Widerspruch u.a.). Zwar kann ein Argument unstimmig oder zwingend für die Begründung von Geltungsansprüchen sein, wesentlich ist aber, ob ein Argument, für die Einlosung "triftig, plausibel" ist. Dies Argument wäre substanziell, d.h. informativ, nicht nur logisch in sich schlüssig.
Wie dies bedeutsam wird verdeutlicht die Analyse des folgenden Schemas, mit dem Toulmin die formale Struktur des Arguments (hier vereinfacht) beschreibt:

Die Behauptung ( C ) "Das Wasser im Topf dehnt sich aus" wird durch Angabe einer Ursache ( D ) "Das Wasser wird erhitzt" erklärt. Diese Erklärung wird durch Angabe einer Schlußregel ( U ), hier ein Gesetz der Thermodynamik begründet Die Plausibilität oder Triftigkeit ( T ) der Schlußregel wird hier durch Hinweise über die wiederholte Beobachtung des Zusammenhangs von Volumen und Temperatur von Körpern gerechtfertigt ( B ). Triftig ist nun ein Argument, das "möglich" ist, dh. wenn zwischen B und U keine deduktive Beziehung besteht, gleichzeitig B eine "hinreichende Motivation" dafür ist, U für plausibel zu halten.

In ähnlicher Form ließe sich die Struktur auch für den praktischen Diskurs aufzeigen. Ich begnüge mich hier mit einem zusammenfassenden Schema: Argumentationsstufen (1973, S.243)

  theoretisch-empirischer Diskurs praktischer Diskurs
C Behauptungen Gebote/Bewertungen
kontroverser Geltungsanspruch Wahrheit Richtigkeit/Angemessenheit
vom Opponenten geforderte Erklärungen Rechtfertigungen
D Ursachen (bei Ereignissen) Motive (bei Handlungen) Gründe
W empirische Gleichheitsförmigkeiten, Gesetzeshypothesen usw.. Handlungs-/Bewertungs-
normen oder -prinzipien
B Beobachtungen, Befragungsergebnisse, Feststellungen usw. Angabe von gedeuteten
Bedürfnissen (Werten), Folgen, Nebenfolgen usw.

Die konsenserzielende Kraft des Arguments ist für Habermas durch die Angemessenheit des begrifflichen Systems, also der in der Argumentation verwendeten Sprache bestimmt. Alle Teile des Argumentes müssen derselben Sprache angehören. Das gewählte Sprachsystem ordnet das rechtfertigungsbedürftige Phänomen einem bestimmten Gegenstandsbereich zu und bestimmt die Zuordnung zu entsprechenden Arten von Ursachen oder Motiven, von Gesetzesannahmen oder Normen. Daraus ist zu folgern, daß Behauptungen nur innerhalb ihres Sprachsystems begründungsfähig sind.
Das Sprachsystem bestimmt aber auch welche Arten der Erfahrung als "Backing" die Argumentation annehmbar machen. Der Übergang von B zu W geschieht im theoretischen Diskurs durch Induktion, im praktischen durch Universalisierung.

* Der Text entstand im Sommersemester 81 in einem Seminar zur TkH bei Prof.H.Nolte an der RUBochum).
"Wahrheitstheorien" (1972): zuerst veröffentlicht in: H. Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion, Pfullingen 1973, S. 211-266 (Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe). Nochmals erschienen in: J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M. 1984, S.127-183. Sonstige Literatur beim Autor
.

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