Exposé
zu einer -
nie geschriebenen
- Dissertation ÜBERLEGUNGEN
ZUR PHÄNOMENOLOGIE LEIBLICHER
2. Situation: Die Rede über den Körper 3. Zur Rede gestellt: Verhalten und Handeln im wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs 4. Doxa und Episteme: Das cartesianische Erbe und die phänomenologische Kritik 5. Übergang: Die "anthropologische Perspektive" - Erinnerung als Fortschritt 6. Wandlungen: Differenzierungen des Spielraums leiblicher Bewegung 7. Das Ende: Die Frage der Normalität 8. Literatur
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Das
Projekt scheiterte aus zwei Gründen: es war zu umfänglich
und mit meiner praktisch-therapeutischen Arbeit unverträglich.
Es gab zuviel Neues zu erfahren und zu lernen. Gleichwohl beschreibt
diese Vorarbeit den Horizont, in dem meine späteren kleinen Vorträge
und Aufsätze entstanden. Dass sich der Horizont in den Jahren
erweitert hat, versteht sich von selbst. - Betreut wurde das Unternehmen
in den 80er Jahren von Prof. Bernhard Waldenfels an der RUB-Bochum.
[R.S. Quakenbrück 8/2003] 1. Vorbemerkung Das Thema einer Phänomenologie leiblicher Bewegung und Handlung, das die folgenden Überlegungen vorbereiten, erscheint hoffentlich nicht nur dem Autor einer Dissertation würdig. Einige Gedanken sind noch nicht ausgereift, vieles bedarf noch der Erkundung und Entfaltung, besonders in den letzten Abschnitten. Andererseits ist gerade diese Offenheit ein Reiz, der die Arbeit fortträgt, ohne alles im voraus zu wissen, aber ebenso wenig in die Gefahr führt, sich in den thematischen Gängen zu verlieren. Berlin 1984 |
2. Situation: Die Rede über den Körper
"Wenn alle Psychologie seit der des Protagoras den Menschen erhöhte durch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, so hat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Objekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihn selber, einmal unter die Dinge eingereiht, deren Nichtigkeit überantwortet." Th. W. Adorno
Lange Zeit war es verpönt von ihm zu reden. In seiner ständigen Anwesenheit geriet er aus dem Blick, Was sich "unterhalb" von Bewusstseinsakten, Sprachhandlungen vollzog wurde nur thematisch in Erlebnissen der Disfunktionalität. Die Individuen nutzten ihn zum Abwälzen von Schuld, Fehlern und Irrtümern. Dieser unvollkommenen Maschine, dieser Ansammlung von Sehnen, Knochen, dieser weichen, feuchten, pulsierenden Masse von Eingeweiden, Muskeln und Blut, diesem oft müden, stolpernden Bewegungsapparat - diesem allen gegenüber empfand und empfindet der Prometheus unserer Zeit so etwas wie Scham: "Ach im Umkreis des Genauen / ziemt uns kein erhobnes Haupt./ Dingen nur ist Selbstvertrauen,/ nur Geräten Stolz erlaubt«" (G.ANDERS 1980, S.26) Nun spricht man wieder über ihn, er ist ins Gerede gekommen, er soll gar selbst sprechen. "Körpererfahrung", "Tanz- & Bewegungstherapie" , die "Einheit von Körper und Geist" in fernöstlicher Philosophie, scheinen Ausdruck einer "Wiederkehr" des Leibes zu sein (vergl. R.SCHOLZ/ P.SCHUBERT 1962, PETZOLD 1977, D. KAMPER/ Ch.WULF 1982). Unterschiede zeigen sich jedoch darin, ob man den, der da wiederkehrt, feiern oder betrauern soll, ab der Läsionen, die ihm zugefügt wurden/werden. Von anderer Seite und mit ariderem Hintergrund ereilen uns täglich Appelle, uns fit und gesund zu halten, die "Bio-Maschine" funktionstüchtig zu halten. Prävention im körperlichen und seelischen Bereich ist das Gebot der Stunde, Diese Forderung enthält eine eigentümliche Ambivalenz, da sie einerseits notwendig und berechtigt ist, andererseits aber düstere Ahnungen und Erinnerungen zulässt: 1931 schrieb Sigerist, ein Befürworter der sozialen Medizin: "Mit Leidenschaft hat der Staat Partei ergriffen für die Gesundheit. Der Kranke ist für die Gesellschaft nutzlos. Er belastet sie nur. Der Staat hat die Mittel zur Erhaltung und zur Wiedererlangung der Gesundheit in den Bereich jedermanns gestellt. Er verlangt dafür Gesundheit vom Einzelnen, ja er erzwingt sie in manchen Fällen."(zit. in: J.BLEKER 1983, S.240)
3. Zur Rede gestellt: Verhalten und Handeln im wissenschaftlichen und philosophischen Diskurs
"Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse auf ihre Fragen zu antworten." I. KANT
Auf dem Felde wissenschaftlicher Forschung in Biologie, Physiologie und Psychologie führt der qelebte Leib ein Schattendasein. Der Körper als "Ding" hingegen bildet den Gegenstand eingehender Analysen. Doch solange Physik und Chemie die Paradigmen biologischer und physiologischer Forschung bestimmen, wird das Phänomen des Lebens verfehlt. "Man kann zwar den Versuch machen, Lebendes aus Nicht-lebendem abzuleiten, aber dieses Unternehmen ist bisher mißlungen. (...) Leben finden wir als Lebende vor, es entsteht nicht, sondern ist schon da, es fängt nicht an, denn es hat schon angefangen. Am Anfang jeder Lebenswissenschaft steht nicht der Anfang des Lebens selbst; sondern die Wissenschaft hat mit dem Erwachen des Fragens mitten im Leben angefangen" (V.v. WEIZSÄCKER 1973, S.3, vergl. R.LÖW 1980, Kap. 1 u.4). Körperbewegungen, die in diesem System kausalmechanischer Naturvorgänge gedeutet werden, entbehren so eines Subjektes, das diese vollzieht. Was unterscheidet aber dann die Bewegung lebender Wesen von der Bewegung eines beliebigen Körpers im raum-zeitlichen System der Physik ? Die Psychologie war lange Zeit von behavioristischen Ansätzen beherrscht (vergl. HILGARD/BOWER 1975, C.SANDERS 1972). Verhalten sollte nur von außen beobachtbar und theoretisch vorhersagbar sein. Die Reize fungieren als unabhängige, die Verhaltensakte als abhängige Variablen. Weben der physikalisch gedeuteten Außenwelt wurde zwar eine Innenwelt "within the skin" zugestanden , diese schien jedoch bedeutungslos. "In dieser Ontologie äußerlich verknüpfter Tatsachen haben Sinn, Intention, Spontaneität, Verantwortung und Freiheit nichts mehr verloren; sie erscheinen folgerichtig (...) als Restbestände animistischer und magischer Vorstellungen» (WALDENFELS 1976, S.58). Trotz aller differenzierten Weiterentwicklung setzte ein Umdenken erst mit der "kognitiven Wende" ein. Zumeist nach dem Vorbild des Computers wurde ein "epistemologisches Subjekt" konstruiert, das sich Wissen aneignet und strukturiert, über Gedächtnis und Interpretationschemata verfügt. (vergl. NEISSER 1974, NORMAN/ RUMELHART 1978) Die Lücke zwischen Wissen und Handlung, d.h. den Zusammenhang von kognitiven Strukturen und Tätigkeitsvollzügen, sollte eine psychologische Handlungstheorie schließen. Fast antithetisch zur Konzeption eines passiv reagierenden Organismus' geht sie davon aus, daß der Mensch ein aktiv auf seine Umwelt einwirkendes, zukunfts-bezogenes Wesen ist, das sich selbst Ziele setzt, Hypothesen über die Umwelt aufstellt und überprüft, Pläne erstellt und verwirklicht. (vergl. WERBIK 1978) In die Konzeptualisierung dieser Theorie, bzw. korrekter dieser Theorien, gehen Einflüsse aus der Kybernetik und Artificial-Intelligence-Forschung, der genetischen Entwicklungspsychologie Piagets und der Arbeitspsychologie ein. (Übersicht: AEBLI 1980, 1981) Ebenso nachhaltigen Einfluss haben die verschiedenen Strömungen der soziologischen und philosophischen Handlungstheorie. In der Diskussion um "Erklären und Verstehen" in den Sozial- und Humanwissenschaften wurde dem positivistischen Programm einer Einheitswissenschaft ein neuer Dualismus entgegengesetzt. Was das subsumptiontheoretische Schema für Kausalerklärungen und Erklärungen in den Naturwissenschaften ist, sollte der praktische Syllogismus, die Frage nach den Gründen des Handelns, für teleologische Erklärungen sein (vergl. v.WRIGHT 1974, APEL/TUOMELA 1978). In der Analytischen Handlungstheorie begegnen wir der Sprache als Medium der Handlungsanalyse, als Modell der Handlungsregelung und schließlich als Form der Handlung, in den "Speech Acts". (vergl. z.B. MEGGLE 1977, BEKKERMANN 1977, SEARLE 1979) So wie sich Sprache und Sprechen nicht durch den Aufweis psycho-physiologischer Naturvorgänge begreifen lässt, so wird auch die Handlung, der Handlungsvollzug als eigenständig vorgestellt, sie sind verständlich und interpretationsbedürftig. Welchen Status haben in diesem Horizont die uns interessierenden Körperbewegungen, oder wie wir es lieber formulieren, hat die Sphäre des leiblichen Ausdrucks? Es ist versucht worden, die Körperbewegungen ("basic actions") als primitive Handlungen zu deuten. Doch was sagt z.B. der Satz: "Er hebt den rechten Arm"? Manfred RIEDEL zeigt am Beispiel der Missionsgeschichte Christi auf Giottos Fresken in der Arena-Kappelle in Padua, daß je nach Szene, nach Handlungskontext, der erhobene Arm ermahnen, lehren, befehlen, drohen bedeuten kann (1980, S. 16ff). Körperbewegungen sind so unselbständige Handlungen, die in eigentlichen Handlungen mitvollzogen werden und nur sekundär, durch Einbettung in eine Spiel- oder Lehrpraxis (Sport, Tanz), Selbständigkeit erlangen. HABERMAS unterscheidet (1981, S.144ff) kausal relevante Bewegungen, mit denen ein Subjekt in die Welt eingreift (instrumentell handelt), von semantisch relevanten, mit denen ein Subjekt eine Bedeutung verkörpert (sich kommunikativ äußert). Diese Differenzierung nimmt Bezug auf seine Konstitutionstheorie der Erfahrung, in der kognitive Schemata den Objektbereich der "Welt der Gegenstände" und moralische Schemata den Objektbereich der "Welt sprechender Subjekte" organisieren. Damit die organisierte Erfahrung auch formuliert werden kann, bedarf es semantischer Kategorien, die als propositionaler Gehalt in Sprechakten auftauchen. Um eine erfolgreiche Referenz auf "Gegenstände in der Welt" zu gewährleisten, bedarf es mindestens der G r u n d b e g r i f f e: Substanz, Raum, Zeit und Kausalität. Für die "Welt sprechender Individuen" sind dies: Ich-Identität, sozialer Raum bzw. Zeit und Intentionalität, d.h. an die Stelle der Ursache tritt das Motiv. In Anlehnung an PIAGET, KOHLBERG und CHOMSKY will er KANTs transzendentalphilosophische "Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" durch die "rationale Rekonstruktion von Gattungskompetenzen" ersetzen. (HABERMAS 1973, 1981) Werden innerhalb der einzelnen Weltbezüge Geltungsfragen gestellt, d.h. Fragen nach der Wahrheit von Tatsachen oder der Richtigkeit van (Handlungs-)Normen, so sind diese nur argumentativ, erfahrungsfrei im "theoretischen" oder "praktischen Diskurs" entscheidbar. Von den Vorzügen oder Schwierigkeiten dieser "Diskurstheorie" wallen wir hier einmal absehen und lieber fragen, was ist das für ein "Subjekt", das uns hier vorgestellt wird? Sind es wirklich die "allgemeinen Strukturen der Rede", die primär die Erfahrung vom eigenen Leib, von der Welt und den Anderen derart bestimmen, daß in dieser Perspektive die "Häute" sichtbar werden, "mit denen sich die Sprache gegen die äußere oder objektive Natur, gegen die normative Realität der Gesellschaft und gegen die innere, subjektive Natur abgrenzt und zugleich osmotisch öffnet"? (HABERMAS 1974, S.332) Ist das Verhältnis von Leib-Sein und Körper-Haben, das sich uns im Lachen und Weinen (PLESSNER 1941) zeigt, und z.B. in psycho-somatischer Krankheit schmerzhaft bewusst wird, wirklich ein einfacher "Doppelaspekt", der sich in der Doppelstruktur der Sprache "bloß abbildet"? (HABERMAS 1972, S.235) Sind Körperbewegungen wirklich nur "Operationen" unter der Regie eines handelnden Ichs, die lediglich "mitvollzogen" werden ? (Ders. 1981, S. 144) Zuletzt noch gefragt: Was ist dies für eine Praxis, in der praktisches Verhalten sich durch Anwendung vorgängiger, universalisierbarer Normen auf vorgegebene Situationen rechtfertigt? Dies sind keine rhetorischen Fragen, auf die eine fixe Antwort möglich wäre. Doch in unserem Fragen öffnet sich im suchenden Befragen der Horizont des Erfragten. Wir erkennen, vorerst hypothetisch, hinter dem Befragten Eine klassische Dichotomie: die semantisch umgedeutete ontologische Scheidung von res extensa und res cogitans. Scheint dieses cartesianische Erbe nicht durch, wenngleich in modifizierter Form? Der sprachtheoretische Ansatz hintergeht den Solipsismus, ersetzt die Meditation durch den Diskurs. Jedoch fragt es sich, ob dies Problem mit einer weiteren Abgrenzung (soziale vs. subjektive Welt) gelöst ist. Auf der einen Seite finden wir so das Subjekt als Natur, Körper, Gegenstand in der objektiven Welt, auf der anderen als sprechendes, geistiges und sinnliches Wesen in der Sphäre der Kultur, der Normen und konventionellen Regeln. Demnach ist es einfach, ersterer die Körperbewegung und zweiterer die Handlung zuzuordnen. Diese beiden Bereiche der Faktizität und der Normativität sind jedoch eher Limes-Gestalten, gewonnen in einem Prozess methodischer Abstraktion. (vergl. WALDENFELS 1977, 1984) Die imaginären Fluchtpunkte dieser methodischen Perspektiven weisen zurück auf ein leibliches Subjekt, das Natur ist und diese doch ständig übersteigt. Was ist es dann ? Weitgehend negativ und allzu metaphorisch können wir vorerst mit MERLEAU-PONTY antworten: "Konkret genommen ist der Mensch nicht Psychismus" (Ich-Identität), "verbunden mit einem Organismus" (Substanz),"sondern das Kommen und Gehen der Existenz, die bald sich körperlich sein läßt, dann wieder in persönlichem Handeln sich zuträgt." (1966, S.113) Sie ist der Vollzug, "durch den, was keinen Sinn hatte", bloße Natur, "einen Sinn gewinnt, was Zufall war, Vernunft wird: insofern sie Übernahme einer faktischen Situation ist" (ebd. S.202). Diese unbestimmte Struktur des "Zur-Welt-Seins" (etre au monde), diese WANDELGÄNGE, liegen vor jedem System der sprachlich fixierbaren " Ich-Abgrenzungen", jene sind es, auf die sich der Blick unserer Arbeit richten soll. In dieser Hinsicht ist der Leib weder Ich noch Ding, weder reines Bewusstsein noch reine Natur, weder Tatsache noch Idee. Einige Pfade dieses "Zwischenreiches" sind bereits erkundet worden. Wir wollen ihnen nochmals nachgehen, in der Hoffnung einige Schritte weiter zu gelangen. |
4.
Doxa und Episteme: Das cartesianische Erbe und "Phänomenologie ist Sehen. Wer nicht sieht, sieht nicht, daß er nicht sieht." H. ROMBACH Die Dichotomie von Natur und Bewusstsein, die wir zu unterlaufen suchen, weist uns zurück auf den Beginn der neuzeitlichen Philosophie und Naturwissenschaft. Neben GALILEI, ist hier zuvorderst DESCARTES zu nennen, bei dem das Subjekt, aller Leiblichkeit und Endlichkeit entkleidet, zur zweifelsfreien Instanz der Wahrheit, der Gewissheit wird. Es konstituiert sich ein neues Verhältnis zur Welt, das sich dadurch kennzeichnet, daß es die phänomenale leib- und perspektivengebundene Anschauung überspringt, hineinspringt in einen theoretischen, mathematischen Entwurf einer objektiven Welt. Die Tatsachen dieser Welt zeichnen sich als einheitliche, quantitativ bestimmbare Materie aus, deren Bewegungsformen als regel- und gesetzmäßiger Verlauf feststellbar sind. Die Folge dieses Entwurfes ist eine "Sucht" nach Tatsachen, wobei das, was eine Tatsache ist, immer schon entschieden ist. Die Welt wird zu einem präsenten, verfügbaren Bestand. Verfügbar deshalb, weil bereits in der Art des Herangehens an die Dinge bei der Frage, was die Dinge sind, der Blick stets auf die Weisen ihrer Erzeugung geht. (vergl. HEIDEGGER 1975) Auch Galilei betont dies "Sich-im-Geiste denken" (mente concipere), benennt so im voraus, was einheitlich bestimmend einen Körper definiert: Alle Körper sind gleich. Keine Bewegung ist ausgezeichnet. Jeder Ort ist jedem gleich; jeder Zeitpunkt jedem. Hatte noch die mittelalterliche Philosophie die beiden Wesensbe-stimmungen des Menschen, Leib und Seele, unterschieden, sie aber gleichwohl zu einer substantiellen Natureinheit verbunden, so wird diese bei DESCARTES aufgelöst. Für ihn ist der Leib, der Organismus ein Ding für sich von der Qualität einer res extensa, die von der res cogitans objektivierend betrachtet wird. Letzterer kommt dabei eine eindeutige Vorrangstellung zu; mehr noch: "wenngleich ich vielleicht (...) einen Körper habe, der mit mir sehr eng verbunden ist, so ist doch - da ich ja einerseits eine klare und deutliche Idee meiner selbst habe, sofern ich nur ein denkendes, nicht ein ausgedehntes Ding bin, und andrerseits eine deutliche Idee vom Körper, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Ding ist. - soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin und ohne ihn existieren kann."(DESCARTES, 6. Meditation, §17) Körperliche Vorgänge und Bewegung gehören ausschließlich in den Bereich der Physiologie; Physiologie ist aber nichts anderes als auf den Menschen angewandte Physik. In der nachfolgenden empiristischen Tradition eines HOBBES und Locke verflacht die Frage nach dem Verhältnis von Cogito und Welt zu der nach dem Zueinander von Innen- und Außenwelt, einhergehend mit einer Naturalisierung des Geistigen. Die cogitationes werden zu Empfindungen. Die alltägliche, in unterschiedlichen Kanteten vollzogene Selbst- und Fremderfahrung des Menschen - die Doxa, wie sie die Alten nannten - wird als Schein "entlarvt". Nur die Wissenschaft - die Episteme - vermag die "eigentliche Realität" hinter den Trugbildern der gemeinen Wahrnehmung zu erkennen. Leben wir aber so nicht in einer Welt "ideeller Konstruktionen", entworfen im zurichtenden Blick? Ist es nicht möglich, die "Sachen selbst" sprechen zu lassen und der gelebten Erfahrung ihr Eigenrecht zuzuerkennen? Die Phänomenologie Edmund HUSSERLs hat sich als ein solcher Versuch verstanden. "Vernünftig oder wissenschaftlich über Sachen urteilen, das heißt (...), sich nach den Sachen selbst richten, bzw. von den Reden und Meinungen auf die Sachen selbst zurückgehen, sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseitetun" (HUSSERL Ideen I, S.35). Bekanntlich ist er besonders in seinem Spätwerk, "Die Krise der europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie", der Sinngenesis von neuzeitlicher Wissenschaft und ihrer Fundierung in Lebenswelt und lebensweltlicher Anschauung nachgegangen. Wir beschränken uns im Folgenden nur auf Andeutungen. HUSSERL ist stets, auch in seinen "historischen" Betrachtungen, seinem Programm der "korrelativen" Bewusstseinsanalyse, der Untersuchung von Intentionalitäts- und Wesensstrukturen treu geblieben. Mit dem Rückgang auf die Lebenswelt und korrelativ auf die lebensweltliche Anschauung will er den dem "Objektivismus" verfallenen neuzeitlichen Wissenschaften ihre Lebensbedeutsamkeit zurückgeben, denn gerade das Vergessen der Lebenszeit als dem Boden und Horizont, von dem jede wissenschaftliche Konstruktion ausgeht und auf den sie zurückweist, ist ihm für die Krise dieser Wissenschaften verantwortlich. Es geht ihm darüber hinaus um die Rehabilitierung der Philosophie als universaler Vernunftwissenschaft, die, in der Beschreibung einer Ontologie der Lebenswelt, den Wissenschaften erst ihre Ermöglichung als spezifische menschliche Zweckgebilde freilegt und auch allen historisch-relativen Lebenszeiten ihre invariante Struktur vorhält. Sein Programm findet in dem Versuch, mittels transzendentaler Reduktion, diese letzte Vorgegebenheit der Lebenswelt selbst noch einmal als eine konstitutive Leistung der transzendentalen Subjektivität zu begreifen, seinen Höhepunkt. Der in diesem Zusammenhang aufgezeigte Prozess der "Idealisierung", "Mathematisierung" und "Technisierung" des lebensweltlich Gegebenen zu einer "Welt an sich", wird dargelegt als einer der Sinnkonstitution, der Sinnverschiebung und -verdeckung. Er läßt sich in fünf Schritten sehr verkürzt beschreiben: 1. Abstrahierung vom Geistigen und Kulturellen auf rein Körperliches. 2. Bevorzugung gewisser empirischer Grundgestalten durch die Messkunst. Darin zeigt sich 3. der Ansatz zur Konstruktion von Ideal-Gestalten ("reine Limesgestalten"), der "Sprung" von den perspektivischen Anschauungsreihen in die Idee. 4. In Vergessenheit gerät, "daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist" (HUSSERL Krisis S.52). Es entsteht 5. die Vorstellung einer voraussetzungslosen, geschlossenen, wenn auch unendlich explizierbaren Welt reiner Gegenständlichkeiten. (vergl. BRAND 1971, S.9ff) Um die Sinngenesis der wissenschaftlichen Konstruktionen nachzuvollziehen bedarf es des Rückgangs auf die "ursprüngliche lebensweltliche Erfahrung", aber derart, daß dieser Rückgang kein solcher ist, "der einfach die Welt unserer Erfahrung hinnimmt, sondern er verfolgt die in ihr bereits niedergeschlagene Geschichtlichkeit auf ihren Ursprung zurück." (Ders. EU, S.43f) Der Begriff der Lebenswelt taucht jedoch in dreifacher Bedeutung auf: a) als "konkrete Lebenszeit", die universal alle Zweckgebilde umfasst; b) als "relative Sonderwelt", bestimmte Kulturwelt und c) als "abstrakt herauszupräparierender Weltkern" (Krisis, S.136) Als dieser ist sie die raumzeitliche Welt der Dinge, der Natur, vor aller kulturellen Interpretation, damit "jedermann gleich zugänglich" (ebd. S.142). Nur in der letzten Form (c) kann sie als Fundament der "objektiven Wissenschaften" gelten (vergl. WALDENFELS 1979a, S.126). Nicht erst hier regen , sich Zweifel. Das sich in steter Vorgegebenheit als Grundstufe jeder höheren Sinnbildung vorstellt und in universaler Strukturiertheit invariabel bleibt in Bezug auf alle Relativitäten - diese "pure Natur" - gleicht sie nicht allzu sehr der cartesianischen res extensa? Eine so reduzierte Wahrnehmung kann nicht grundlegend sein, derart, daß sie allen Erlebnis- und Verhaltensweisen voraus ist. Natur ist uns nie "rein" gegeben, sondern immer eingeschlossen in eine je geschichtlich-konkrete Kulturwelt. Dies hat Konsequenzen für das Verhältnis von Lebenszeit und Wissenschaft. Ein stufenweiser Regress durch die Sinnschichten hindurch auf eine "unberührte" Lebenswelt ist somit nicht möglich. Die wissenschaftliche Welt ist keine zweite Welt, da ihre Sinnkonstitutionen auch in der Lebenswelt gelten und sich bewähren müssen. "Dazu bedarf es eigener Zurüstungen, die, obzwar nicht 'aus' der Lebenswelt motiviert, gleichwohl 'in' ihr zu treffen sind" (STRÖKER 1979, S.120). Die experimentellen Vorkehrungen sind so gleichermaßen Teil der wissenschaftlichen Praxis: dort dienen sie der Geltungsprüfung; wie der lebensweltlichen Praxis: insofern sie deren Bestand etwas Neues hinzufügt, seien es Geräte, Theorien oder Interpretationsmuster. Die Wissenschaft konstituiert ständig die Lebenswelt und die lebensweltliche Erfahrung mit. Die Lebenswelt verliert ihre Einheitlichkeit, konkurrierende Strukturbildungen sind möglich. Sie verwandelt sich in ein Netz von Sonderwelten, "die sich vielfach überschneiden und überlagern, die sich aber (...) nicht hierarchisch anordnen und teleologisch ausrichten lassen im Hinblick auf ein umfassendes Ganzes" (WALDENFELS 1979a, S. 136). Verliert diese Welt ihre "Einheitlichkeit", so kann die intentional auf sie bezogene Subjektivität, das Ego davon nicht unbetroffen bleiben. Die Evidenz der "lebendigen Selbstgegenwart" steht in Frage. Die Gerichtetheit auf die Gegenstände mit ihren Horizonten, eingelagert in den Strom des unthematisch Mitgemeinten, ist der Reflexion immer schon voraus. Das Ego weiß sich als wissendes immer erst im nachhinein. Vor allem aktiven Intendieren und der Vergewisserung dieser Intention als Akt, liegt eine "passive Genesis des Sinnes", ein Sinn, der sich ohne mich erfüllt. Nie kann ich ihn gänzlich aufhellen, er sedimentiert sich und konstituiert so das Ego mit, das nichts anderes ist als das Werden seiner selbst in der Geschichte. Das Bewusstsein ist also seiner selbst nicht sicher, kein fundamentum inconcussum, sondern bleibt strukturell unverfügbar verflochten mit der Welt und den Anderen. Abschließend sollte aber noch ein Phänomen besonderes Augenmerk verdienen: der Leib! Besonders in den "Ideen II" hat HUSSERL sich der Konstitution des Leibes zugewandt. Zwar betont er immer wieder, daß der Leib, äußerlich wahrgenommen, nicht ein Ding unter anderen ist. Als Träger der Sinnesempfindungen, als bewegliches Organ des Willens ist er ein "subjektives Objekt". Und doch ist er ein "konstituierter Gegenstand" des transmundanen Ego: "... wie der Leib überhaupt so ist alles ihn als Gegenstand ausmachende 'Nicht-Ich' dem Ich gegenüber nur in der Weise des Gegenüber dem Ich zugehörig, eben als daseiender Gegenstand seiner Erfahrungen" (HUSSERL Ideen II, S.212, vergl. FROSTHOLM 1978, S. 10ff) Wieder haben wir uns in einem Dualismus verfangen. Hier sind wir Epoche übendes Ego, das unter dem Gesetz der Motivation, intentional auf "Objekte" bezogen ist. Das "Wahrgenommene", einschließlich meines Leibes "bestimmt" mich nur in seinen Sinnbeziehungen. Dort sind wir als materiell, leiblich fundierte Subjektivität eingebunden in die Naturkausalität. Personale Motivation und natürliche Kausalität, angeschaute und "reale" Wirklichkeit stehen sich gegenüber (vergl. WALDENFELS 1975). Besteht demgegenüber nicht eine Identität von anschaulicher Wirklichkeit in ihrer Gegebenheit; von zu verändernder Wirklichkeit in ihrer Gefügigkeit und Widerständigkeit und von erlittener Wirklichkeit. Das wahre cogito ist nicht die von aller Kausalität freie Subjektivität, sondern die "leibhafte Existenz zur Welt": empfänglich für das Gegebene, beweglich (!) im Umgang mit dem Gegebenen und physischen Einwirkungen ausgesetzt. Im GANG durch diese Welt zeigt sich diese einheitlich, aber zugleich sich wandeln in der Akzentuierung unserer Erfahrung.
5.
Übergang: Die "anthropologische Perspektive"
"Die Natur bietet der Leiblichkeit und Intersubjektivität lediglich eine Gelegenheit." MERLEAU-PONTY
Wir haben einen großen Umweg gemacht durch die Geschichte neuzeitlicher Philosophie, sind aufgestiegen in die lichten Höhen Transzendentaler Phänomenologie, um uns doch eigentlich dem zu nähern, was das Nächste scheint: unserem Leib, seinen Bewegungsmöglichkeiten und -grenzen. Es ist jedoch keine neue Erkenntnis, daß der gelöste Augenblick zumeist im Dunkeln bleibt. Um ihn zu erhellen, bedarf es einer Besinnung, die sich nicht von begrifflicher Strenge und methodisch "sauberen" Tatsachen beirren läßt, sofern diese in einem metaphysischen Paradigma wurzeln, das in Frage steht. Gerade Fakten scheinen manchmal merkwürdig luftige Wesen zu sein, oder wie Bunter gegenüber Lord Peter einmal sagte: "My lord, facts are like cows. If you look them in the face hard enough, they generally run away." Hegten wir gegenüber der gegenwärtigen Handlungstheorie den Verdacht eines neuen/alten Cartesianismus, so blieb auch die Husserlsche Phänomenologie nicht frei davon. Bei aller Bedeutsamkeit in der Betonung "vorurteilsfreier Beschreibung" und der Rückgebundenheit aller Erkenntnis an die lebensweltliche Anschauung, hat sie sich doch zu sehr als reine Bewusstseinsphilosophie vorgestellt, wieder einen Hiatus zwischen Natur und Geist aufreißend. Wir wollten aber zwischen den Extremen wandeln, wo der Leib weder Ich noch Ding, weder reines Bewusstsein noch reine Natur, weder Tatsache noch Idee ist. Hier fortschreiten, heißt, sich erinnern, zurückdenken an Autoren und Theorien, die der "mainstream" der Forschung überrollt zu haben scheint. Uns sollen hier vier Autoren interessieren: der Mediziner und Psychopathologe Erwin STRAUS; der Physiologe und Neurologe Kurt GOLDSTEIN; der Biologe und Psychologe Frederik J. BUYTENDIJK und der Philosoph Maurice MERLEAU-PONTY. Was die Autoren in ihrer unterschiedlichen Forschungsarbeit eint, ist eine "anthropologische Perspektive". Für sie trifft zu, was V.v. WEIZSÄCKER in dem o.g. Zitat aussprach: Sie beginnen mitten im Leben. Ausgangspunkt ist der Organismus in seiner Umwelt, der Mensch in seiner Lebenswelt. Alle atomistischen Ansätze, die komplexes Verhalten aus der Summierung von Elementarvorgängen erklären wollen, werden kritisiert, insbesondere der Behaviorismus. Der Argumentationsgang ist eher umgekehrt (vergl. z.B. GOLDSTEIN 1934,S.2). Die Umkehrung liegt aber nicht darin, von Konstrukten auszugehen; d.h. die Herangehensweise ist weder induktiv noch deduktiv, sondern nimmt ihren Ausgang von "phänomenalen Ganzheiten". So wie die Funktion eines Organs nur verständlich wird im Kontext des Gesamtorganismus und dieser nur in seinem Bezug zur Umwelt, ist die Bewegung als "Gestalt" auf dem "Hintergrund" einer Situation zu verstehen. Das methodische Prinzip der Analysen läßt sich "phänomenologisch" nennen, obgleich in einem modifizierten Sinne. Es gibt für die Autoren kein transzendentales Subjekt, das die Natur und die Lebenswelt konstituiert. Sinn und Bedeutung ist nicht Ergebnis eines bedeutungsverleihenden Aktes, gar vollzogen durch ein "transzendental reduziertes" Ur-Ego, sondern sind bereits verkörpert, in-karniert in den Strukturen des Organismus (vergl. MERLEAU-PONTY SV). Anstatt von Bewusstsein sprechen sie von Existenz (MERLEAU-PONTY), oder vom "erlebenden Wesen" (STRAUS , 1956) . Eine reine eidetische Psychologie, wie HUSSERL sie konzipierte, liegt ihnen fern, für sie ist das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft eines der wechselweisen Durchdringung. "Gestalt", "Struktur", "Funktion" und "inkarnierte Bedeutung" sind einige der Schlüsselbegriffe, mit denen sie die Dichotomie von Tatsache und Idee, von Kontingenz und Notwendigkeit, von Natur und Bewusstsein zu unterlaufen suchen. Der anti-cartesianische Zug ist unverkennbar. Vielleicht noch einige Worte zu den Autoren im einzelnen, mit besonderem Blick auf unseren thematischen Fokus: Bewegung und Handlung. (Wir beschränken uns auf Stichpunkte, deren Entfaltung und Prüfung die Arbeit selbst leisten muss.) - Erwin STRAUS nennt sein Buch "Vom Sinn der Sinne" einen "Beitrag zur Grundlegung der Psychologie". Für ihn sind die Sinne kein Werkzeug des Intellekt, sondern vollziehen eine ursprüngliche Kommunikation mit der Welt. "Die Welt erfassen mir ursprünglich nicht in ihrem Bestand, sondern in ihrer Aktualität. Wir richten uns in der sinnlichen Kommunikation auf die Welt, und sie richtet sich gegen uns" (S.207). Hier deutet sich auch die Doppelstruktur der Empfindung, des "Spürens" an: dies Berühren und Erleiden als Einheit. Besonders bedeutsam sind seine Überlegungen zum Zusammenhang von Empfinden und Sicht-Bewegen (bes. S. 238ff): Sensorium und Motorik sind keine äußerlich verknüpften Vollzüge. Z.B.: "Tanzmusik und Tanzbewegung sind intermodal geeint. Keinerlei Assoziationen knüpfen die Bewegung an Klang und Rhythmus, die Bewegung folgt der Musik ganz unmittelbar"(S.239). Da Straus den Menschen als "Werdenden" begreift, ist für ihn die "beseelte Bewegung" Veränderung, Übergang von einem Hier zum Dort. "Weil wir im Augenblick unganz sind, bedürfen wir der Ergänzung, können wir uns verändern,(...) von einem Ort zum anderen übergehen" (S.275). - Kurt GOLDSTEIN, der sich selbst nicht als Phänomenologe sah, hatte jedoch wesentlichen Einfluss, z.B. auf MERLEAU-PONTY (SV, PdW). Seine Untersuchungen an hirngeschädigten Soldaten des Ersten Weltkrieges führten ihn zu einem "holistischen" Ansatz in der Physiologie und Psychologie. Begrenzte Schädigungen von Hirnarealen führen nicht zu einem partiellen Ausfall der Motorik oder des Sensoriums, sondern zu einer Umstrukturierung des Verhaltens zur Welt auf niedrigerem Niveau (vergl. 1934, S.35f). Der Organismus ist kein physikalisches Ding, das sich unter real-kausalen Bedingungen gesetzmäßig ändert, sondern er erreicht sein Gleichgewicht unter Einbeziehung von virtuellen Bedingungen, die er selbst in die Wirklichkeit einführt. Unterschiedliche Bewegungen, z.B. Streck- und Beugebewegung, werden nicht durch Angabe der je verschiedenen anatomischen und neuralen Vorgänge verständlich, sondern sind "Ausdruck verschiedener Stellungnahmen des Organismus zur Umwelt" (S.310). In Beugebewegungen, z.B. Konvergenz- und Fixationsbewegungen, nimmt er von der Welt Besitz, während Streckbewegungen eher die Passivität des Organismus, eine Hingabe an die Dinge ausdrücken (vergl. MERLEAU-PONTY SV, S.171) Von besonderer Wichtigkeit ist auch GOLDSTEINs Unterscheidung von "konkretem" und "abstraktem" Verhalten. Beim ersteren sind wir gebunden an die Unmittelbarkeit der Situation; beim Zweitären übersteigen wir die faktische Situation, treten in Distanz zur Situation und eröffnen uns einen imaginären Horizont, eine Welt des Möglichen. Oder wie MERLEAU-PONTY es einmal zusammenfasste: "In die volle Welt, in der die konkrete Bewegung sich abspielt, gräbt die abstrakte Bewegung eine hohle Zone der Reflexion und Subjektivität, sie überschiebt dem physischen Raum einen virtuellen oder menschlichen Raum" (PdW, S. 137). - Auch Frederik F.J. BUYTENDIJKs Forschungen nehmen ihren Ausgang von unmittelbaren Anschauungen, sei es in der Biologie oder Anthropologie. Schon in der animalischen Welt haben Begriffe wie Subjektivität und Intentionalität ihre Berechtigung (vergl. Ders. 1958; BUYTENDIJK/PLESSNER 1925,1935) In seiner "Allgemeinen Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung" (1948, deutsch 1956) legt er eine Fülle von Beobachtungen über Typologien der Bewegung, über Bewegungslernen, Ausdrucksverhalten und Differenzierungen der Bewegungsgestalten von der Kindheit bis zum Greisenalter vor. Für ihn können Bewegungen nur angemessen verstanden werden, wenn man sie als "Funktionen" betrachtet, die jeweils eine bestimmte Aufgabe in der Auseinandersetzung eines Subjektes mit seiner Um- und Mitwelt erfüllen. Die Funktionen haben eine Eigengesetzlichkeit, die sich nicht dadurch erkennen läßt, daß angegeben wird, welche Muskeln und welche neuralen Verschaltungen beteiligt sind. Ein und dieselbe Bewegung kann je nach Situation und Intention des Subjekts unterschiedliche Bedeutungen haben. Menschliches Dasein zeigt sich ihm als ununterbrochene Kette von Bewegungen und Haltungen. "In der Anschauung der Selbstbewegung erfassen wir das Selbst-Sein als ein Subjekt-Sein (ein être sous-jeté), das ebenso sehr der eigen-nen Begrenzung unterworfen ist als es andererseits das Vermögen ihrer Überschreitung impliziert"(1956, S.24). Dieses Subjekt-Sein, bei den Dingen und den Anderen sein vermittels der fungierenden Leiblichkeit, ist weder beschreibbar in den Kategorien der Physiologie noch in denen der (Bewusstseins-)Psychologie; ob BUYTENDIJKs Funktionsanalyse der Bewegung eine "dritte Dimension" adäquat beschreiben kann, muss geprüft werden. - An dieser Stelle noch etwas zu Maurice MERLEAU-PONTY zu sagen, fällt schwer; er hat uns bisher schon wegweisend begleitet. Er hat die Theorien der erwähnten Autoren aufgegriffen, mit ihnen und auch gegen sie argumentiert, stets in einer doppelten Grenzziehung: diesseits von Naturalismus und Idealismus. Er entwickelt dabei in "Struktur des Verhaltens" und "Phänomenologie der Wahrnehmung" keine neue Begrifflichkeit, sondern arbeitet zumeist den "lateralen Sinn" der jeweiligen Begriffe heraus, zeigt auf, wo ihre Geltung an Grenzen stößt. Der Fluchtpunkt einer Vermittlung liegt außerhalb des Horizontes. Er unternimmt den Versuch, "ein Diesseits von reiner Natur und reinem Bewußtsein zu denken, ohne es auszudenken" (WALDENFELS 1976a, S.X ). Statt Eindeutigkeit, Vermittlung der Extreme, bleibt eine Spannung, eine "Ambiguität", nicht nur in der Sprache, sondern in der Sache selbst. Unser Verhalten zur Welt und Mitwelt trägt in sich eine Schicht, die weder reine Natur ist, noch in unserer freien Verfügung steht; der Leib ist im konkreten Ich integriert als eine präpersonale, anonyme, generelle, natürlich und kulturell erworbene Existenz (vergl. WALDENFELS 1968, S.42ff). Als "habitueller" Leib führt er ein unpersönliches Dasein, gleichsam der "Grund" von dem sich "aktuelle" Bewegungsintentionen abheben, die ihrer Erfüllung aber nie sicher sein können. Im ersten Hauptteil unserer Untersuchung werden wir erkunden müssen, ob mit den skizzierten Ansätzen eins Phänomenologie leiblicher Bewegung und Handlung erarbeitet werden kann. Andere Autoren: PLESSNER; J.v.UEXKÜLL 1983; M. FELDENKRAIS 1978; u.a. werden stützend zu Rate gezogen. Der Gegenpart in der gegenwärtigen Diskussion ist aber nicht so sehr der Behaviorismus, sondern findet sich eher bei systemtheoretischen Ansätzen, die ebenfalls die Dichotomie von Natur und Kultur zu unterlaufen suchen: G.BATESON 1973, 1980; E. MORIN 1974. Die in diesem Abschnitt angedeutete "anthropologische Perspektive" auf eine integrative Theorie des Handelns und der Bewegung scheint uns jedoch noch zu unbestimmt: es fehlt die Dimension konkreter Geschichtlichkeit. Sie ist zwar stets mitintendiert, wenn von "Auseinandersetzung mit der Welt", von "Lebenswelt" und "Situationskontext" gesprochen wird, aber die Intention bleibt oft leer. |
6.
Wandlungen: Differenzierungen des
"Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, 'corpus', unterschieden" ADORNO/HORKHEIMER
In der anthropologischen Perspektive begegnen uns die leiblichen "Möglichkeiten". Der Blick auf konkrete gesellschaftliche Formationen gewahrt spezifische "Verwirklichungen", öffnet zudem den Bereich der Institutionen, der sozial geregelten Handlungsvollzüge. Jede Gesellschaft hat ihre eigenen Gewohnheiten, den Körper einzusetzen. Marcel MAUSS spricht in diesem Zusammenhang von den "Techniken des Körpers". Er versteht darunter "die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen" (1935, S.159). Es liegt uns fern, in umfassender und systematischer Absicht eine Geschichte des Wandels von bevorzugten Bewegungsformen vorzulegen, etwa in der Art wie Norbert ELIAS den Prozess der Affektkontrolle oder Jürgen MANTHEY den Primat des Sehens beschrieben haben. Es ist jedoch sinnvoll, einige Facetten näher zu beleuchten, um so den Zusammenhang oder vielleicht auch Widerstreit von "anthropologischer Grundlegung" und "historisch-gesellschaftlicher Differenzierung" derart aufzuzeigen, daß er nicht nur programmatisch bleibt. In dieser Hinsicht nähern wir uns auch wieder dem Beginn neuzeitlicher Wissenschaft und ihrem Entwurf einer mathematisch bestimmbaren Welt reiner Körperlichkeit. Dieser Entwurf ist jedoch nicht lediglich eine Interpretation der Wirklichkeit, sondern diese wird zunehmend nach seinem Charakter umgearbeitet. Äußere Natur wird zum manipulierbaren Gegenstand, zum Objekt von Herrschaft. Den Folgen dieser Zurichtung der Natur begegnen wir täglich in unserer Umwelt. Das herrschende Subjekt bleibt davon aber nicht unberührt. In einer Art "Rückprojektion" wird das, "was in der äußeren Natur sich als Garant für Ordnung und Kontinuität bewährt hat,(...) auf die eigene, die innere Natur der Menschen übertragen"(R. z. LIPPE 1983, S.7). Die Übertragung ist nicht nur eine der Interpretation, sondern auch hier eine der Bearbeitung; Subjektivität wird selbst zum Gegenstand. ADORNO und HORKHEIMER haben dies deutlich ausgesprochen: "Die Herrschaft des Menschen über sich selbst (...) ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, (...) eigentlich gerade das, was erhalten werden soll" (1944, S.62). In der Ausführung unserer Arbeit werden diese Gedanken thematisch im Hintergrund bleiben, eher den Blick auf bestimmte Figuren lenken. Beispiele solcher Figuren sind: das Ballett, wie es R. z. LIPPE (1974) beschreibt. An seiner unterschiedlichen Form und Funktion in der italienischen Hochrenaissance und dem französischem Absolutismus zeigt er, wie der Tanz als "Selbstdarstellung", als bewusste Aneignung der Physis, zunehmend metrischen Schemata unterworfen wird. Ein weiteres Feld sind die Erziehungspraktiken des 19.Jahrhunderts, die Leib und Bewegung nicht nur metaphorisch einschnürten. Karin RUTSCHKY (1977) hat hier umfangreiches Quellenmaterial zusammengestellt (vergl. auch GSTETTNER 1981). Der häuslichen und schulischen Erziehung folgt die "Arbeitswelt". Gerade hier wurde und wird die Bewegung des Arbeitenden zum Gegenstand besonderen Interesses. Im Umgang mit den Maschinen wird der Mensch ihnen immer ähnlicher; ein Gedanke der sich schon bei HEGEL findet (Realphilosophie I, S.237, vergl. HABERMAS 1968, S.26ff) Wichtige neuere Überlegungen finden sich bei NEGT/KLUGE (1981) und H.-D. BAHR (1983). Die Zerlegung von Bewegungsablaufe in Teilverrichtungen und deren Zusammenstellung, nicht nach dem Leitfaden des Leibes, sondern den Erfordernissen einer rationellen Ökonomie, findet sich ebenfalls, historisch gesehen sogar zuerst (R. z. LIPPE 1983, S.13), beim Militär. Die Zerlegung hatte in der klassischen "Kriegskunst" zwei Konsequenzen: einmal sind die Teilbewegungen mittels Drill situationsunabhängig einübbar und zwar so, daß sie auf Befehl "automatisch" ausgeführt werden. Hier liegt die zweite Konsequenz: die Abrufbarkeit der Handlungen auf Kommando. Wenn von "Kriegskunst" die Rede war, so ist dies nicht nur ideologischer Schein, vielmehr läßt sich ein "ästhetisches" Moment aufzeigen. "In den Militärtraktaten werden Bewegungen von Truppenteilen aus einer Aufstellung in eine andere als geometrische Schemata dargestellt.(..) Die Bewegungen werden offensichtlich vor allem nach dem Muster von einfach zu berechnenden Bahnen, nicht nach einem Sinn in Beziehung zum menschlichen Gehen oder zum Gelände (...) angeordnet" (ebd.). Von der Idee dieser Konzeption her fallen Sehen und Bewegung auseinander: der Feldherr überblickt als das "Auge" unbewegt die Szenerie; das Heer, der Verband entindividualisierter Soldaten in Reih und Glied, führt blind die befohlenen Bewegungen aus. Den Erfordernissen des wirklichen Kampfes war dieses Konzept nicht angemessen; als "Erziehungsprogramm" hielt es sich der Tendenz nach durch: es ist das Prinzip jeder zentral gelenkten Großorganisation. Wohin dies führen kann, zeigte der Nationalsozialismus: der Soldat als "Stahlgestalt" und die Truppe als "Ganzheitsmaschine" (vergl. THEWELEIT 1978). Es ließen sich noch weitere Felder aufzählen, z.B. der ganze Bereich der Leibeserziehung und des Sports. Welche von den vorgestellten und noch möglichen Konkretisierungen in die Arbeit aufgenommen werden ist derzeit noch nicht eindeutig festgelegt. Es kommt darauf an, einerseits nicht den Faden zum ersten Teil, der "anthropologischen Fundierung", zu verlieren, aber gleichzeitig zu vermeiden, daß diese den Blick auf die historischen Konkretisierungen verzerrt und wir nur das sehen, was wir sehen "wollen".
7. Das Ende: Die Frage der Normalität
"Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis des ärmeren zu benutzen." NIETZSCHE
Im letzten Teil der Arbeit werden wir ein Resumé ziehen. Es wird die Frage nach dem Verhältnis von "anthropologischer Grundlegung" und "historischer Konkretion" zu erörtern haben; dies in zweierlei Hinsicht: einmal auf der methodologischen Ebene, zum anderen auf der des "Gegenstandes". Hat sich die Methode des "phänomenologischen Sehens" im Gang der Arbeit bewährt oder welche Modifizierungen hat sie erfahren? Ist die "anthropologische Perspektive" auch eine der Kritik gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Formierungen? Im Vorgriff können wir diese Frage insoweit negativ beantworten, daß wir die Möglichkeit eines harmonischen, Leib und Welt einenden "Naturzustandes" bezweifeln. Das heißt aber nicht, alles Verhalten wäre gleich gültig. An dieser Stelle werden wir die Beobachtungen unserer Autoren aufnehmen, die sie zum Thema des pathologischen Verhaltens beigetragen haben. Die Verselbständigung des Körperhaften in der Krankheit und Extremformen der leiblichen Bewegung, z.B. die Ekstase und "Raserei", haben hier ihren thematischen Ort Goldstein 1934, 1971; BLANKENBURG 1983; RITTNER 1982; LOISEL 1982). Wie es eine "unzivilisierte Seite der Natur" gibt (MERLEAU-PONTY), so enthalten Leib und Bewegung Momente, die sich vielleicht jeglicher Sinngebung entziehen. |
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