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So ist die Kirche nicht zu retten

Kritische Bemerkungen zu Albrecht Grözingers
"Anstiftungen für das Christentum in
postmoderner Gesellschaft"
*

Brigitte Gensch

Paris 1929  A.Kertesz


"Die Postmoderne ist da" - mit dieser Exclamatio des Vorworts eröffnet A.Grözinger seine Publikation 1, eine Zusammenfügung von Vorträgen, die im Rahmen von Pfarrkonferenzen und kirchlichen Fortbildungsseminaren gehalten wurden. Doch ist es wohl nicht allein diesem Entstehungszusammenhang geschuldet, daß die Veröffentlichung im Aufbau, Themenwahl und -durchführung den systemisch-deduktionistischen Zugriff meidet. Stattdessen scheint postmoderne Programmatik durch: thematisch-motivische Diversität und ein eher konstellativer denn subsumierender Aufbau (seiner Innenseite nach), mehr Rhizom denn dihairetische Pyramide. So etwa wird die Frage nach dem Topischen des Christentums - sie ist in Grözingers Arbeit zentral - verschieden kontextuiert und damit jeweils neu verstanden. Die durchaus prekäre Ortszuweisung, daß christliche Existenz wesentlich ein übergängiges "Dazwischen" (33f.) sei, geschieht in so heterogene Spannungsfelder hinein wie: Tempel und Markt (33-48), Erinnerung und Humanität (64-78) oder gestaltet sich gar als "transversale Seelsorge" (93) 2

Der Aufbau, seiner äußeren Seite nach, folgt nichtsdestoweniger einem klassischen Dreischritt. Das erste Großkapitel "Konturen der Postmoderne" diskutiert schwerpunktartig drei Problemkreise der Postmoderne und exponiert sie als Leitthemen, auf deren Ambivalenz die Überlegungen der nachfolgenden Kapitel bleibend bezogen sind. Das zweite Kapitel "Christentum in der Postmoderne" hat sein Zentrum im Versuch einer theologisch begründeten Kulturtheorie, und mehr als es der Rückverweis (63) zu erkennen gibt, zehrt dieses Kapitel von den Einsichten und Leitideen der Habilitationsschrift Grözingers "Praktische Theologie und Ästhetik" von 1987. Im dritten Kapitel "Kirchliche Praxis in der Postmoderne"dann werden die Konsequenzen der postmodernen Herausforderungen (Kap.1) an das Christentum, sofern es diese als eigene Stärken sich anzuverwandeln versteht, einerseits und die Konsequenzen der theologischen Kulturtheorie (Kap.2) andererseits für drei Bereiche der Praktischen Theologie, nämlich Liturgie, Poimenik und Diakonie, durchgesprochen. Ein beschließender, kurzer Ausblick revidiert das überkommene Pfarramtsverständnis, das Pfarramt sowohl demokratisierend wie in gewisser Weise intellektualisierend. Die drei Großkap. sind zudem darin miteinander verknüpft, daß das je letzte Unterkapitel (1.5: Tempel und Markt - Zum Ort der Kirche in der Postmoderne; 2.3: Tradition und Revolte; 3.3: Möglichkeiten diakonischen Handelns: Lesen-Erzählen-Erinnern) die Thematik des folgenden Kapitels bereits exponiert und konturiert.

Bevor sich Grözinger den drei Leitthemen der Conditio postmoderna 3 zuwendet, diskutiert er in Kürze die Alternative "Moderne oder Postmoderne?" (11-16), indem er zwei maßgebliche Kombattanden der Kontroverse ins Feld führt, nämlich Habermas, den tapferen Verteidiger der Moderne, einerseits und Welsch andererseits, welcher allen Differenzierungen zum Trotz der Moderne aufs Ganze gesehen Valet sagt. Es ist letzlich eine Denkfigur und These der Kritischen Theorie, genauer der "Dialektik der Aufklärung", die Grözingers Parteinahme für die Postmoderne motiviert und die Habermassche Hoffnung, die Moderne sei ein - noch immer - vollendbares Projekt desillusioniert: es seien gerade die Erfolge der Moderne, durch welche diese als Katastrophengeschichte sich entziffere. 4 Glücklicherweise hängt Grözinger die Kontroverse nicht so hoch, daß er das Verhältnis von Moderne und Postmoderne zum Epochenbruch hochstilisiert, es geht ‘nur’ um "einen weitreichenden Abschied von gängigen Standards und Strategien zur Beschreibung der Wirklichkeit" (12). 5
Gleichwohl kann der Einleitung wie auch den folgenden Kapiteln die Kritik, ein notwendiges Reflexionsniveau zu unterschreiten, nicht erspart bleiben. Grözinger zitiert Welsch affirmativ: "Die Postmoderne beginnt dort, wo das Ganze aufhört (...) Vor allem nützt sie das Ende des Einen und Ganzen positv, indem sie die zutage tretende Vielfalt in ihrer Legitimität zu sichern und zu entfalten sucht (...) Das Rad der Geschichte ist nicht durch ein Einheitsdekret zurückzudrehen, und die postmoderne Vielheit ist nicht mehr am Maßstab solcher Einheit zu messen". (13f.)

Einmal davon abgesehen, daß Passagen wie die eben zitierte selbst bereits Züge des Dekretorischen tragen, auch davon abstrahierend, daß dem inflationären Gebrauch des Begriffs Kultur mitsamt seinen Komposita und Derivaten seinerseits schon wieder die Tendenz zur Re-Totalisierung innewohnt (wovon auch Grözinger nicht frei ist 6), den Nachweis der Echtheit, ob die ‘neue Pluralität’ dem systemischen Einheitszwang tatsächlich entronnen oder ob sie nicht vielmehr als dessen ideologisches Deckbild und notwendig schöner Schein seiner Herrschaft weiterhin unterworfen sei, diesen Nachweis und diese Prüfung bleiben die postmodernen Apologeten schuldig. Längst mehren sich die Stimmen, die der postmodern favorisierten Pluralität, etwa in Gestalt der Diversität und Multikulturalität, ihren Zauber nehmen, der kritische Widerpart modernen Identitätszwangs zu sein. So definiert z.B. F.Jameson (und mit ihm andere neomarxistische Kritiker wie R.Williams und T.Eagleton) die Postmoderne als kulturelles Pendant spätkapitalistischer Logik. Der konkurrenzlos gewordene und in seiner Globalisierung gänzlich entfesselte Kapitalismus eignet sich die Diversität der Orte 7als seine Manifestationsbedingung an, und das neue Dogma der Multikulturalität arbeitet - jenseits und entgegen der intendierten Widerspenstigkeit - der kapitalistischen Aneignungslogik, alles und jedes, selbst das Fremdeste, kompatibel zu machen, auch zu. Nicht zuletzt ein so leidenschaftsloser Soziologe wie N.Luhmann entzauberte die postmodernen Fetische der Kontingenz und Ambiguität, indem er ihnen den bescheidenen Platz eines semantischen Begleitphänomens funktional ausdifferenzierter (also moderner) Sozialsysteme zuweist. All diese Stimmen und ihre kritischen Einwürfe jedoch finden in Grözingers Darlegungen keine Resonanz.
Wenden wir uns nun den bereits mehrfach annoncierten drei Leitthemen: Die Individualisierung der Lebenswelten - Der Verdacht gegen die großen Erzählungen - Die Erfindung des eigenen Lebens zu.

Ad 1) Die Individualisierung der Lebenswelten

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Grözinger referiert den neuzeitlichen Prozeß der Individualisierung als eine in zwei Stadien sich vollziehende Entwicklung, welche er unterschieden wissen will. Gleichwohl hält er auch Gemeinsames fest. Beide Stadien sind in sich ambivalent, beiden eignet das Moment gesellschaftlichen Zwanges. Denn einerseits emanzipiert erstmals die bürgerliche Gesellschaft der Neuzeit den Menschen zur Vereinzelung wirklicher Individualität, andererseits verweist jene Vereinzelung - durch die Beschleunigungsdynamik der industriellen Moderne forciert - auf einen doppelten Verlust: die Auflösung und den Verbrauch traditioneller Deutungsmuster und Sinnbestände; die Versachlichung aller intersubjektiven Beziehungsweisen und ihre Reduktion aufs ‘nackte Interesse’ ökonomischer Egoität. Den von U. Beck geprägten soziologischen Term der Individualisierung der Lebenswelten aufnehmend, sieht Grözinger die gegenwärtige Gesellschaft einem neuen, bisher so nicht gekannten Individualisierungszwang unterworfen. Da die Moderne nicht nur die ihr vorausliegenden traditionalen Bestände, sondern auch ihre ureigenen, durch sie erst hervorgebrachten Institutionen, Ordnungsmuster und Sinnvorräte verbraucht, werden nun den Individuen immer mehr Definitionsleistungen zugemutet (19f.). Fernab der neuzeitlichen Verheißung, ein Subjekt sei gerade darin Subjekt, über das Definitionsmonopol zu gebieten, d.h. alle ‘Vorgegebenheiten’ vor den Richterstuhl der kritischen Vernunft zu bringen, zeitigt der Individualisierungszwang die Folgen der Entmächtigung und Überforderung. Der Komplexitätsgrad moderner Gesellschaft verhindert systematisch, daß die notwendigen Entscheidungen der Individuen noch fundiert und verantwortlich getroffen werden können - so jedenfalls Becks Urteil (20).

Ob der gegenwärtige Individuierungsschub sich wirklich von demjenigen der industriellen Moderne unterscheiden läßt, ob er nicht vielmehr gänzlich von der Virtualisierungs- und Beschleunigungsdynamik der Neuzeit überhaupt unterhalten wird, das mag eine vernachlässigenswerte, weil allzu binnendifferenzierende Nachfrage sein. Doch defizitär ist dieses Kapitel m.E. deshalb, weil es den in der lebensweltlichen Individualisierung hinterlegten Freiheitsspielraum nicht mit der nach wie vor herrschenden systemischen Unfreiheit konfrontiert, die Diagnose der Individualisierung der Lebenswelten mit derjenigen ihrer Kolonialisierung 8 nicht ausbalanciert. Der Sachverhalt des gesellschaftlichen Zwangs ist mit dem Hinweis auf die Dialektik, wir seien zur ‘Freiheit’/"Individualisierung verdammt" (22) jedenfalls unterbestimmt. Mit dem die klassische Begrifflichkeit der Verdinglichung und Entfremdung aufhebenden Begriff der Kolonialisierung sucht Habermas folgende Dialektik zu fassen: die Rationalisierung der Lebenswelt - im Übergang zur modernen Gesellschaft - ermöglicht(e) eine Komplexitätssteigerung des Systems und seiner Subsysteme (Ökonomie, Bürokratie, Staat etc.), deren gegenüber der Lebenswelt "verselbständigte Imperative" auf diese "destruktiv zurückschlagen" (ebd., 277). Zum Subsystem insofern marginalisiert, als sie ihre ureigene intersubjektive Verstehens- und Handlungskompetenz mit dem Funktionalismus des Systems und der anderen Subsysteme nicht mehr vermitteln kann (Entkoppelung), gerät sie andererseits gänzlich unter die Botmäßigkeit der Systemimperative (Kolonialisierung). Becks Zitat (20) kann in dieser Linie verstanden werden: der ‘neue’ Systemimperativ der Individualisierung bestimmt die Lebenswelt, ohne daß den Individuen die Chance bliebe, jenen in ihre Verständigungsprozesse zu integrieren.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: die Kritik geht nicht dahin, Grözinger ein geschöntes Moderne- (oder Postmoderne-) Bild anzulasten, denn über Schattenseiten und Gefahren macht er sich keine Illusionen (vgl. z.B. 22.93.110.124f.). Die Kritik konzentriert sich in dem Punkt, nur die Risiken, Ambivalenzen etc. des modern-postmodernen Prozesses auszuwählen, die sich in Chancen und positive Herausforderungen der Theologie und kirchlichen Praxis ummünzen lassen.

Ad 2) Der Verdacht gegen die großen Erzählungen

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"Man wird also jedesmal vom Mord der Geschichte tönen, wenn man in einer historischen Analyse (...) sieht, wie auf zu manifeste Weise die Kategorien der Diskontinuität und des Unterschiedes, die Begriffe der Schwelle, des Bruchs und der Transformation, die Beschreibung der Folgen und Grenzen benutzt werden. Man wird dann einen Anschlag auf die Grundrechte der Geschichte und gegen die Fundierung jeder möglichen Historizität denunzieren. Man darf sich darin aber nicht täuschen: was man so stark beweint, ist nicht das Verschwinden der Geschichte, sondern das Verwischen jener Form von Geschichte, die insgeheim, aber völlig, auf die synthetische Aktivität des Subjekts bezogen war; (...) was man beweint, ist jener ideologische Gebrauch der Geschichte, durch den man versucht, dem Menschen all das wiederzugeben, was seit mehr als einem Jahrhundert ihm stets entgangen ist."9
Obgleich Foucault, von einer Allusion (80) abgesehen, in Grözingers Publikation keine Rezeption erfährt, trifft das Zitat aufs genaueste die Intention nicht nur dieses Unterkapitels. Denn nicht um das Ende der Geschichte überhaupt wie all ihres Erzählens ist es zu tun, zu verabschieden gilt es allein dessen ideologische, da falsche Einheit und Ganzheit supponierende Konstruktion. Wenn sie nicht von jeher unzutreffend war, so ist sie es zumindest seit "mehr als einem Jahrhundert". Analog argumentiert Grözinger: in den Katastrophenerfahrungen des Ersten Weltkrieges bereits rissig geworden, markiert der Zivilisationsbruch "von Auschwitz und dem Archipel Gulag" (24) das endgültige Ende der Meta-Erzählung (so Lyotards Term), der Erzählung der Geschichtsteleologie, der Autonomie neuzeitlicher Subjektivität etc.

Eine wichtige Differenzierung, die Grözinger vornimmt, sei hier referiert. Zwar reagierte schon die Ästhetik der klassischen Moderne (Dadaismus,Kubismus, Wiener Schule usf.) seismographisch genau auf die Krisen- und Zerfallsprozesse ihrer Zeit, doch hielt sie an der Limesgestalt einer neuen, einheitsgebenden Verbindlichkeit fest. Im Gegenzug dazu verabschiedet die Postmoderne nicht nur jedwede einheitsintendierende Hoffnung, sie münzt den Verlust vielmehr in den Gewinn um, den resultierenden Freiraum als Freiraum neuer Pluralität nun erstmals nutzen zu können. Die Widerlegung des Einwands, solche Pluralitätsaffirmation begebe sich schon im vorhinein jeder Möglichkeit eines Kriterien- und Begründungsdiskurses, delegiert Grözinger an ein Zitat Z.Baumans (27f.). Anders gesagt: eine eigene Auseinandersetzung findet nicht statt, weder hier noch im Zuge der folgenden Kapitel.

Nach differenzierender Antwort auf die (selbst-)kritische Nachfrage, ob und inwiefern das Ende aller Groß-Erzählungen nicht gleichermaßen und essentiell die Groß-Erzählung Christentum und die mit ihr verbundenen Groß-Erzählungen (z.B. Patriachat, Mission etc.10) betreffe, beschließt Grözinger das Kapitel mit der Exposition eines reformatorischen Theologumenons, das sich im folgenden als ein zentraler Argumentationsträger erweisen soll (vgl. 33.59.61-63.81-83.120). Die Christentumskritik in gewisser Weise unterlaufend, profiliert Grözinger die Aneis Gottes (Luther), die Gottesgeschichte als eine solche, die "nur im Einspruch und Widerspruch gegen alle großerzählerischen Überformungen zu hören und zu erzählen ist" (29). Die biblische Gottesgeschichte ist im doppelten Sinne kritisch. Da sie ihrem Gehalt wie ihrer Erzählstruktur nach ein Verhältnis zur Machtlosigkeit 11 unterhält, ist sie stets gefährdet, der Gewalt des menschlichen (Erzähl-)Zugriffs zu erliegen. Mit Grözinger wäre also erneut das in diesem Sinne erzähl- und traditionskritische Potential des reformatorischen sola scriptura zu heben. Und genau darin erweist die Gottesgeschichte ihre zweite kritische Seite. Der paulinische Leitgedanke, daß Gott gerade im Schwachen/in den Schwachen stark ist, trägt, obgleich ungenannt, auch Grözingers protestantisches Urvertrauen 12 ins Gotteswort, gerade aufgrund seiner Schwachheit, Andersheit, Sperrigkeit sich stets erneut Gehör und Öffentlichkeit verschaffen (vgl. v.a. 59.82f.134), kritischer Widerpart und Einspruch gegen den Mainstream sein zu können.

Allerdings, die von Grözinger anfangs noch so optimistisch annoncierte ‘prästabilierte Harmonie’ von "genuin reformatorische(n) Motive(n) mit den Notwendigkeiten der Postmoderne" (33) - zufolge ihrer erzählkritischen Konvergenz - wird brüchiger, je mehr die Ausführungen/die Lektüre fortschreiten. Denn angesichts der notorischen, ans Barbarische reichenden Vergeßlichkeit der Postmoderne 13, ihrer Dialektik, so geschichtsgefräßig wie traditionsresistent zu sein (78), nicht zuletzt angesichts ihrer Indifferenz (110) enthüllen sich die Zentren theologischer Reflexion wie kirchlicher Praxis, nämlich Parteilichkeit und Eingedenken (vgl. v.a. 69-71.77f.), im besten Fall als Remedien, schlimmstenfalls als Gegner der Postmoderne. So kann auch Grözinger nicht umhin zuzugeben: "Gerade die Postmoderne mit ihrem radikalen Pluralismus, der immer in der Gefahr steht, in die Indifferenz zu führen, ist auf solche Gegen-Schriften (gemeint ist hier die Gegen-Schrift des Gottesdienstes; B.G.) angewiesen, mittels dessen je aufs neue eine individuelle Verbindlichkeit entstehen kann" (110). Aber, jenes obengenannte Gefälle des Textes passiert mehr, denn daß es reflektiert wird.

Ad 3) Die Erfindung des eigenen Lebens

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Dieses Unterkapitel führt die Überlegungen des ersten Leitthemas fort, indem es nun den Sachverhalt eines in die Krise geratenen Subjektbegriffes näher beleuchtet.
Da Biographien heute nicht nur "nicht-eigene(s) Leben" (31) beschreiben - das galt für traditionale Biographien vielleicht sogar noch mehr -, sondern dieses Nicht-Eigene darüber hinaus aus einer Vielheit heterogener Geschichten besteht, wird die Frage desto dringlicher, wie das organisierend-synthetisierende Einheitsprinzip klassischer Subjektivität postmodern fortzubestimmen sei. Wie Welsch ist auch Grözinger vom unwiederbringlichen Vergangenheitscharakter des neuzeitlichen Subjektbegriffs überzeugt. Nimmt man Nietzsches Diktum von 1884 auf, der Mensch sei ‘das noch nicht festgestellte Tier’, so entziffert sich die postmoderne Existenzform als eine solche, die - ohne Rückversicherung in einer vorgängigen Einheit - sowohl ihr eigenes Leben in all seinen Momenten als auch die "Grammatik" je zu erfinden hat, um dieses Leben in seiner Heterogenität "lesen und buchstabieren zu können" (32)
14. Den Menschen darin beizustehen, das erlebte Leben lesbar, erzählbar, verstehbar zu machen, ihnen gewissermaßen die Grammatik und Hermeneutik biographischer Aneignung an die Hand zu geben, darin sieht Grözinger die neue Aufgabe und Herausforderung von Theologie.und Kirche (33), eine Linie, die er dann v.a. in den Kapiteln zur Seelsorge und Diakonie auszieht (3.2; 3.3).

Der Abschied des Christentums von seiner überkommenen Herrschaftsposition einer Groß-Erzählung bedeutet in Grözingers Perspektivierung weit weniger einen Verlust denn das - notabene verwandelte - Wiedereinrücken in eine ursprüngliche Möglichkeit, ja Wirklichkeit der frühen Christenheit: die Topologie eines dezentrierten Dazwischen.15 Sie, zunächst ganz unmetaphorisch genommen, entwickelt Grözinger in Kapitel 1.5: "Tempel und Markt - Zum Ort der Kirche in der Postmoderne", um sie dann durchgehend zu der Existenzform und Funktionsweise postmoderner Theologie und kirchlicher Praxis, wollen sie denn auf der Höhe der Zeit sein, auszuweiten (44ff. beginnt diese Ausweitung).
Die fragile Identitätsverfassung der Nicht-Identität, welche der ‘Städter Paulus’ so treffend ins
wV mh (IKor 7) faßte, manifestierte sich auch im Raum. Zwar unterschieden sich die Räumlichkeiten des frühen Christentums, nämlich das private Wohnhaus des Oikos und die hieraus sich entwickelnde Hauskirche, scharf von der Öffentlichkeitssphäre antiker Urbanität, focussiert in der Agora, gleichwohl bildeten jene den Passagen-Charakter der antiken Stadt auch in sich ab (vgl. 37-39). Und da die frühen Christen von einer "doppelten Raumerfahrung" (38) der heidnisch-öffentlichen Agora einerseits und des christlich-privaten Oikos andererseits geprägt waren, formten sie sich allmählich zu besonders "Passagen-vertrauten Menschen" (39), nicht zuletzt deshalb, weil sie diese Doppelung in zentralen liturgischen Akten, Taufakt und Abendmahlsfeier, wiederholten. Folgt man Grözingers Darlegungen, so ist gerade das Christentum zum Traditionsträger und -garanten dessen qualifiziert, wodurch Urbanität sich von jeher auszeichnet: Multiplizität und Diversität der Orte und Übergänge als Grundlage einer "Vielzahl von Lebenslogiken" (36).16 Es ist deshalb - potentiell - auch besonders qualifiziert, der so "passagensüchtig(en) wie passagenbedürftig(en)" (41) postmodernen Urbanität zu begegnen.

So attraktiv die These ist, Christentum und Urbanität konvergierten im Sachverhalt der Passage, so ist doch auch Kritik anzumelden, Grözingers Bild der modern-postmodernen Stadt sei nicht frei von weichzeichnerischer Unschärfe: die Elogen auf den Passagen-Charakter der Stadt wie ihrer Bewohner übertönen den Zwang zur Mimesis, Anpassung und Verstellung, der der Diversität der Übergänge/ Lebenslogiken eingezeichnet ist. Der Sachverhalt der Nomadisierung (41) und ‘Ver-Fremdung’ wird, einmal mehr, auf seine Schattenseite der Entfremdung nicht weiter befragt.17 Dem am Passagen-Werk und Baudelaire-Buch Benjamins geschulten, offenen Sinns durch New York flanierenden Besucher steht kein Bewohner, keine Bewohnerin einer durchschnittlich häßlichen, unattraktiven deutschen Großstadt gegenüber, dessen/deren Apperzeptionsapparat an den alltäglichen "Choc"18 - so vielleicht Benjamin fortbestimmend - sich hat gewöhnen müssen, der/ die sich der urbanen Reizüberflutung mit den Abwehrstrategien der Selektion und Ignoranz bzw. der Haltung der Indifferenz und Gleichgültigkeit zu erwehren sucht.

Im Rhizom des Textes Grözingers verläuft ein Webfaden vom Kapitel der antik-hellenistischen Stadt (1.5. II) zum III. Abschnitt des Kapitels 3.1. ("Die Wiederkehr des Heiligen - die pluralistische Kultur des Feiertages und des Gottesdienstes"), welcher eine "postmoderne Kunstlehre des Gottesdienstes" (98) zu entwickeln sucht. Denn das nicht nur lokale, sondern auch sachliche Aufeinander-Verweisen von Theater und Tempel/ Heiligtum der antiken Stadt 19intendiert Grözinger unter den Bedingungen der Postmoderne neu zur Geltung zu bringen. Die Theateranalogie wird nach drei Richtungen entfaltet.
Dem Drehbuch korrespondiert die Agende, die genau dann besonders ‘werktreu’, d.h. transparent aufs "Ursprungsgeschehen" (101) der Gottesgeschichte hin ist, wenn sie jeweils neue Aktualisierungen ermöglicht. Oder anders gewendet: der Gottesdienst gelingt nur dann als "Wieder-Holung" der "uralt(en)" (103) Gottesgeschichte, wenn er sich gegen seine jeweilige Neu-Inszenierung nicht abriegelt.
Das zweite Analogon situiert Grözinger in der Predigt "als einem monologischen Drama" (105). Auch hier schafft sich der Begriff der Inszenierung, d.i. das hermeneutisch-zwischenträgerische Tun des Über-Setzens Geltung. Denn wie H.Luther, von dem Grözinger sowohl jenen Begriff als auch seine Interpretation borgt, versteht auch er die Predigt als einen Vermittlungsprozeß, durch welchen ein vergangener Text über den ‘garstigen Graben’ der geschichtlichen Entfernung in die "Szenen" (107) unserer gegenwärtigen Situation versetzt, über-setzt wird, letzlich in dem Predigtziel terminierend, jedem Hörer/jeder Hörerin "ein Skript an die Hand" zu geben, "nach dem sie ihre eigene Predigt schreiben können" (108).
Und auch die dritte Fragerichtung nach dem Ort des Gottesdienstes im Gesamtkontext einer pluralistischen Gesellschaft dependiert vom leitenden Konzept der postmodern-christlichen Hermeneutik des Dazwischen. Denn das Kunstwerk Gottesdienst ereignet die durchaus spannungsreiche Begegnung der Alltagswelt mit der "fiktiven Gegenwelt" (110) göttlicher Realität. Deren inszenatorischen Vergegenwärtigung (in Predigt, Liturgie) stellt die Alltagswelt insgesamt unter die Hoffnung und Verheißung, sie gehe ihrer entscheidenden Verwandlung im Eschaton noch entgegen.
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Das erzähl- und herrschaftskritische reformatorische Motiv der sola scriptura wird im 2. Kapitel (2.1 "Plädoyer für eine neue Kulturtheologie") kulturtheologisch fortbestimmt. Sowohl das einer kruden Ontologie sich verdankende Synthesis-Denken P.Tillichs 21als auch den paternalistisch-dekretorischen Gestus K.Barths hinter sich lassend, skizziert Grözinger einen "Kulturprotestantismus" (63), der sich von einer Hermeneutik sich ereignender Konstellation leiten läßt - so der von Grözinger positiv aufgenommene Term G.Figals (62f.). Das erzdemokratische Diktum von Habermas, im Aufklärungsprozeß gebe es nicht Aufgeklärte und Aufzuklärende, sondern nur Beteiligte, leicht abgewandelt aufnehmend, könnte man in Grözingers Perspektive sagen: im unabschließbar-offenen Prozeß kultureller Verständigung und Konstellation sind auch Theologie und Kirche nur Beteiligte, den biblischen Überlieferungsbestand wachhaltende, erinnernd-erzählende Boten zwischen den diversen, oft heterogenen Erfahrungsbereichen der pluralistischen Gesellschaft.

So attraktiv-sympathisch die aller Imperialität entratende, dezentrierte Hermeneutik Grözinger auch ist, in der ganzen, doch so weit gespannten Topologie des Dazwischen fehlt eine wesentliche Daseinsweise des christlichen Dazwischen völlig: daß Theologie und Kirche von der Schrift eingesetzt sind, Israel und die Völker bleibend und, was das ‘Goijische’ anlangt, auch kritisch aufeinander zu beziehen. Nach dem hoffentlichen Ende der christlichen Groß-Erzählung des Antijudaismus könnten aus diesem Dazwischen einer so dann neu israelorientierten Theologie und Kirche noch ganz andere Herausforderungen und Chancen als die von Grözinger skizzierten erwachsen.

Anmerkungen

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1 Grözinger, A., Die Kirche - ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 1998. Die Zitation und/oder Paraphrasierung des Buches wird im folgenden stets durch in Klammern gesetzte Angabe der Seitenzahl ausgewiesen.

2 Hier gleich eine kritische Bemerkung vorweg: solche Virtuosität des Kontextwechsels geht nicht ganz ohne Begriffsäquivokationen bzw. Erweiterung der Begriffsgrenzen über das Tunliche hinaus ab, und es fragt sich, ob der Begriff des Übergangs oder der Passage, so weit wie er von Grözinger gefaßt ist, da er alles und jedes erhellen soll, am Ende nicht eher nichts erfaßt.

3 Mit dieser Re-Latinisierung greift der Autor die postmoderne Programmschrift La condition postmoderne von Lyotard auf (23), indem er ihren Titel über alle drei Entwicklungen setzt (16), deren eine die Krise der Groß-Erzählung ist.

4 Das Benjaminsche Theorem und Pendant: "Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein", an der Dialektik der Moderne gewonnen und sodann gattungsgeschichtlich geweitet, zitiert Grözinger wohl (67). Allein, das rationalitäts- und aufklärungskritische Potential der Frankfurter Schule bringt Grözinger nicht zum Zuge, er sähe sich sonst vielleicht der kritischen Nachfrage gegenüber, ob die ein oder andere postmoderne Verheißung sich nicht als schwacher Abkömmling einer bereits geleisteten, systemkritischen Debatte decouvriere.

5 Über die Moderne und Postmoderne einende Obsession, sich der jeweiligen Gegenwart ‘epochal’ vergewissern zu müssen, vgl. den klugen Beitrag v. W.Grasskamp "Ist die Moderne eine Epoche?" in dem insgesamt sehr lesenswerten Sonderheft der Zeitschrift MERKUR: "Postmoderne. Eine Bilanz" ,Sept./Okt. 1998, 757-765.

6 "Denn die Postmoderne ist in erster Linie ein kulturelles Phänomen, von wo aus dann sicher auch Wirkungen auf Politik oder andere als primär kulturelle Bereiche der Gesellschaft ausstrahlen" (49). Eine solche Aussage segnet den Paradigmenwechsel von den Sozial- zu den Kulturwissenschaften ab: wo (einst) Gesellschaft war, soll (nun) Kultur werden.

7 Regionalismus und Lokalität sind Zentralbegriffe der postmodernen Semantik; über den Zusammenhang von Globalisierung und topischer Besonderung vgl. den Beitrag v. N.Weber "Jenseits der Zeitmauer - Globalisierung als Erbe der Postmoderne?", in: MERKUR, 981-987.

8 Vielleicht hat Grözinger Habermas’ Werk doch zu vorschnell zur Seite gelegt. Als Re-Lecture sei empfohlen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.2, 229-293.445-548; den Sachverhalt der lebensweltlichen Kolonialisierung analysiert Habermas ebd., 452ff.489ff.

9 M.Foucault, Archäologie des Wissens, 25f.

10 Warum fehlt die Erwähnung der mit dem Christentum verbundenen, besonders verheerenden Groß-Erzählung des Antijudaismus/Antisemitismus?

11 Vgl. Sach 3,6: "... Nicht durch Heeresmacht und nicht durch Gewalt, sondern durch meinen Geist! spricht der Herr der Heerscharen".

12 Grözinger spricht vom "protestantischen Urrisiko" (61), die Gottesgeschichte in jeweils neuen kulturellen Konstellationen zur Darstellung zu bringen, sie darin ‘loszulassen’. Da die Tragfähigkeit dieser Geschichte eben nicht vorab gewußt, sondern nur geglaubt werden kann, wurde die Formulierung Urvertrauen gewählt.

13 Daß der Postmoderne eine Tendenz zur Barbarei innewohnt, ist eine Kritik in Verlängerung der Perspektive Grözingers, der "postmoderne Verzicht auf diesen Zusammenhang" (gemeint ist derjenige von Erinnerung und Humanität; B.G.) bedeute keinen "Freiheitsgewinn", "vielmehr einen Verlust an Lebensraum" (65; vgl. auch 133).

14 Der kluge-allzukluge Nietzsche witterte den Zusammenhang zwischen Theologie und Grammatik, als er schrieb: "Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben" (Götzendämmerung).

15 Mit dieser Umdeutung eines Verlustes in einen Gewinn bringt Grözinger eine Strategie der Postmoderne zum Zuge (vgl. v.a. 26).

16 Die mittelalterliche Stadt mit ihrer gleichsam gebauten Groß-Erzählung Christentum, d.h. der gebietenden Zentralität der christl. Kathedrale, verfällt entsprechend Grözingers Kritik (vgl.39.45).

17 Der Nomade und der Fremde gehören gleichfalls zum postmodernen Inventar. Als personifizierte Ambivalenz avanciert letzterer zur Zentralmetapher postmoderner Urbanität. Der Fremde, weil unklassifizierbar, konfrontiert uns mit dem Unentscheidbaren, so Derrida und Z.Bauman, vgl. J.Früchtl, Gesteigerte Ambivalenz, in: MERKUR, 775f. Zum Verhältnis von Nomadentum und Postmoderne vgl. den Beitrag von P.M.Lützeler, ebd., 908-918.

18 Die dem Trauma verwandte Choc-Erfahrung, Signum der modernen Stadt, analysiert Benjamin in: Charles Baudelaire, 103-149.

19 Über die von Grözinger herangezogene Arbeit Kolbs "Die Stadt im Altertum" hinaus sei hier noch an eine andere Publikation des Historikers erinnert, den Aufsatz "Polis und Theater". Ebenda entwickelt Kolb am Paradigma der athenischen Agora die triadische Struktur von Polis (Agora als Rats-, Gerichts- und Volksversammlungsort), Theater (die Agora ist mit der Orchestra identisch, d.h. dem Veranstaltungsort dramatischer Aufführungen) und Heiligtum (die Orchestra war ursprünglich kultischer Tanzplatz; zudem: alle Aufführungen sind Teil des Dionysos-Kultes). Eine postmoderne Konfrontation mit dieser triadischen, das Politische einschließenden Konstellation wäre vielleicht noch reizvoller als die von Grözinger erarbeitete Binärstruktur gewesen. Das (kontroverse) Verhältnis von Religion und politischer Macht entwickelt er in einem anderen Zusammenhang, nämlich demjenigen eines theologisch gegründeten Erinnerungskonzeptes (zum biblischen Architekturstreit vgl. 71-75).

20 Es scheint, Grözinger hat seine Theologische Ästhetik nun um den Zusammenhang: Fiktionalität und Eschatologie erweitert, während er der Ästhetik an maßgeblicher Stelle seiner HabSchr. die Aufgabe zuwies, unverzichtbares Gedächtnis theologisch relevanter Erfahrungen zu sein (ebd.,134).

21 Eine dezidierte Kritik der Kulturtheorie Tillichs findet sich auch ebd.,76-79.


Literatur

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Benjamin, W., Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, Frankfurt a.M. 1974

Foucault, M., Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981

Grözinger, A., Die Kirche - ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 1998

Ders., Praktische Theologie und Ästhetik, München 1987

Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.2, Frankfurt a.M. 1981

Horkheimer, M./Adorno, T.W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1973

Lützeler, P.M., Ein deutsches Mißverständnis, in: DIE ZEIT, Nr.41 (1.10.1998)

Postmoderne. Eine Bilanz, Sonderheft MERKUR, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, hg. v. K.H.Bohrer u. Kurt Scheel, Stuttgart, Heft 9/10, Sept./Okt. 1998


Brigitte Gensch © Für Kommentare und Kritik wäre die Autorin sehr dankbar

siehe auch die G''ttesdienst-Werkstatt der Autorin

 


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