HPK:
STARK steht für „Studium
an der Akademie". Seit vier Jahren können
Interessierte an der Melanchthon-Akademie zwei Jahre lang Theologie
studieren. Sie haben dieses Projekt begründet. Mit welchem Ziel?
MB: Die Idee für ein solches Studium
lag bereits in den Schubladen der Akademie. Sie musste allerdings zu einem
Konzept entwickelt werden. Der Anspruch ist, ein protestantisches Prinzip
einzulösen. Es ist ein altes Dilemma der Evangelischen Kirche, dass sie einerseits
versucht in ihren Strukturen demokratischer zu sein als andere Kirchen, dass
sie aber letztlich doch eine Pfarrerkirche ist. Die inspirierende Erfahrung
der Reformation, das eigene Erlebnis von Luther, Melanchthon und anderen war
jedoch, dass sie durch eigenes Lesen, durch die mühsame Auseinandersetzung
mit der Bibel irgendwann verstanden haben, was der rote Faden und das Leuchtende
und Begeisternde an Gottes Rede ist. Da mussten sie selber durch. Das verlangt
Mut zur Auseinandersetzung, zum Zweifel, zum Fragen, zum Widerspruch. Dieses
Da-durch-müssen ist das eigentlich protestantische Prinzip. Das Ziel ist also,
Menschen »stark« zu machen, dass sie auf Augenhöhe mit ihrer Pfarrerin und
ihrem Pfarrer, mit ihren Hauptamtlichen, mit denen, die in der Kirche was
zu sagen haben, reden können. Dafür kommen sie zwei Jahre lang einmal im Monat
zu einem Wochenende in die Akademie.
BG: Nicht alle, aber die meisten Studierenden
sind auf die eine oder andere Weise in der Kirche engagiert. Nicht zuletzt
deren Urteilsvermögen soll dieses Studium stärken. Das bedeutet in theologischen
und kirchengeschichtlichen Fragen unterscheiden zu lernen, Begründungen vortragen
zu können, mit Argumenten zu unterscheiden. STARK verweist aber noch auf etwas
anderes. Wenn in der Synagoge die Lesung eines der fünf Bücher der Tora abgeschlossen
wird, wünscht man sich: „Sei stark, sei stark, und wir wollen uns gegenseitig
stark machen." Man weiß, das Studium kostet Zeit und Mühe, es fordert
Kraft, aber die regelmäßige Erinnerung an unsere Geschichte mit Gott gibt
auch Kraft für die Zukunft. Das können wir von Israel lernen.
HPK:
Der eine oder
die andere wird sicher schon ein wenig gelesen haben, aber Studium bedeutet
ja auch, sich etwas systematisch zu erschließen. Was heißt das, wenn Menschen
einmal im Monat für ein Wochenende aus ihrem Alltag heraustreten und versuchen,
Theologie so zu verstehen, dass es für sie von Bedeutung ist?
MB: Natürlich könnte ich den Menschen
keinen enzyklopädischen Abriss der Theologie bieten: Den gibt es vermutlich
auch gar nicht, und so etwas war auch nicht unser Ziel. Uns ging es um exemplarische,
praktische und zugleich neuartige Zugänge oder Wege zur Theologie. Zum Beispiel
dadurch, dass wir diese Stadt Köln mit einbeziehen und dort diese Zugänge
in Alltagssituationen zu entdecken versuchen.
BG: Dieser Stadtbezug ist sehr, sehr
wichtig. Am ersten Wochenende des dritten Durchgangs bin ich mit der Gruppe
durch das Severinsviertel gegangen und habe ihnen dort an markanten Orten
die Themen präsentiert, die wir in den folgenden zwei Jahren entfalten werden.
Es war wirklich ein Anfangen. Entsprechend sind wir archäologisch vorgegangen:
Von den Anfängen eines Bischofs Severin, der hier vor 1600 Jahren eine Kirche
gebaut hat und den Martin mit musikalischer Eskorte zum Himmel hat fahren
hören, über die Kartause und den vor knapp 1000 Jahren hier von Bruno gegründeten
Kartäuserorden, das Augustinerinnen-Krankenhaus mit seiner Beginen-Vergangenheit
bis hin zur Gedenkmedaille für den Pfarrer Georg Fritze, durch den wir die
Bekennende Kirche und so einen Teil der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts
kennen gelernt haben.
MB: Ein anderes Beispiel: Wenn wir
über Propheten gesprochen haben, habe ich auf die Stadttexte von Jesaja zurückgegriffen.
Was faszinierte Jesaja an Jerusalem? Wieso hat er die Stadt Jerusalem so scharf
kritisiert? Wir reden in Köln über eine Stadt, die im Mittelalter 12 Tore
hatte und sich als das neue Jerusalem verstand. In diesem Selbstbewusstsein
schwebt Köln ja in gewisser Weise immer noch. Es gibt also eine ganze Menge
Bezüge zwischen Jerusalem und seinem Tempel und Köln mit seinem Dom und seinen
romanischen Kirchen, z.B. St.-Maria-im-Kapital.
HPK:
Die Beziehung
zur Stadt Köln ist also ein grundlegendes Arbeitsprinzip. Aber das ist ja
zunächst nur Illustration. Wie ist das Studium strukturiert?
MB: Das Thema der ersten zwei Semester
ist biblische Theologie. Das erste hat einen Schwerpunkt im Alten Testament
und als Rahmenthema »Erinnerung«. Das zweite ist unter der Überschrift "Vergegenwärtigung"
vor allem dem Neuen Testament gewidmet. Das zweite Studienjahr ist orientiert
auf die Systematische Theologie: Wer ist dieser ganz Andere? Wer ist Gott?
Im Zentrum stehen Fragen von Dogmatik und Ethik. Und im letzten Semester fragen
wir „Wer sind die anderen?" Dahinter verbergen sich Fragen der inner-
und außerchristlichen Ökumene und der christlichen Praxis. Bei mir spielte
auch ein persönlicher Hintergrund eine Rolle: Ich habe ein Jahr an der Dormition
Abbey in Jerusalem studiert. Bei diesem ökumenischen Studienjahr ist mir klar
geworden, was es an innerchristlicher und interreligiöser Ökumene alles zu
entdecken gibt. In Jerusalem läuft ja alles gleichzeitig. Wir sind damals
von einer Liturgie zu anderen gelaufen mit großen Ohren, haben versucht,
manches zu verstehen und zu begreifen. Meine Erkenntnis war: Wir sind nicht
der Mittelpunkt der Erde. Das ermöglichte mir nicht nur einen freien Blick
auf die anderen christlichen Konfessionen, sondern auch auf das Leben der
Juden und Muslime.
BG: Dieses Wissen um die Pluralität
des Gotteszeugnisses scheint mir ein Geheimnis von STARK zu sein: nicht die
Abgrenzungen zu betonen, auch nicht zwischen dem Alten und dem Neuen Testament,
sondern viel mehr auf das Echo zu achten, auch die Resonanz, die das eine
im anderen findet. Mein Akzent liegt zum Beispiel darauf, diese strikte Scheidung
zwischen den beiden Testamenten, die die Universitäten in den exegetischen
Fächern immer noch pflegen, zu überwinden. Ich möchte dazu anregen, Formen
der Korrespondenz zwischen beiden Teilen der Heiligen Schrift einzuüben und
zu zeigen, wie sehr das Neue Testament auf die Hebräische Bibel angewiesen
ist. Das soll in den ersten beiden Semestern erreicht werden. Da hinein gehört
auch das Wissen darum, dass es mit Israel eine Auslegungsgemeinschaft gibt,
die uns voraus ist, und die wir zur Kenntnis nehmen sollten, wenn wir uns
biblischen Texten nähern. Welches Textverständnis herrscht dort vor? Es ist
das eines unendlichen Diskurses. Moses kann auf dem Berg gehört haben was
er will, aber die Auslegungsgemeinschaft muss es in der Geschichte einholen,
im Streitgespräch, im Diskurs. Es gibt da einen Midrasch vom schwarzen und
weißen Feuer. Der geschriebene Text, also die schwarzen Buchstaben, dass ist
das schwarze Feuer. Das weiße Feuer ist die Unendlichkeit der möglichen
Auslegungen. Es ist die Erneuerungsquelle, die selbst nie schwarz wird,
selbst nie kenntlich wird. Und aus diesem weißen Feuer tritt das schwarze
Feuer hervor, aber es verschwindet auch wieder darin. In dieser Metaphorik
des verschlingenden und auch freigebenden und erneuernden Feuers ist die Geschichtlichkeit
und Unabschließbarkeit von Auslegung beschlossen. Und damit die Notwendigkeit,
sich auseinander zusetzen, sich zu verständigen.
MB: Dass die Bibel etwas Unabschließbares
hat, macht sie natürlich auch zu etwas schwer Einzuordnendem. Die Bibel wird
zwar auf der einen Seite für kompliziert gehalten, andererseits wird sie erzählt
und präsentiert wie ein spannender Roman oder ein Tatsachenbericht. Das ist
ein fruchtbares Dilemma. Ein Anspruch des Projekts STARK ist es deshalb, zu
zeigen, dass der Bibelauslegung seit jeher unterschiedliche Methoden zur Verfügung
stehen. Wichtig sind heute vor allem die historisch-kritische, die materialistische
und die feministische. Die probieren wir auch aus, genauso, wie wir aus der
jüdischen Variante, die Tora zu lesen und zu diskutieren, zu lernen versuchen.
HPK:
Wie macht man
eine jüdische oder historisch-kritische Bibelauslegung, wenn man nicht griechisch,
hebräisch oder aramäisch kann?
BG: Die Studienteilnehmer wissen
zwar, die Übersetzung ist nur ein Hauch, ein Schatten. Meist geht es aber
auch mit den Übersetzungen der Luther- oder der Züricher Bibel. Wird es strittig
oder besonders wichtig, zeige ich die Möglichkeiten der Originalsprache auf.
Wenn man das zur jeweiligen Stelle ergänzt, kann man auch gemeinsam die Schätze
heben, die der Text zur Verfügung hat.
MB: Ich habe versucht, den STARK-Studierenden
an den Wochenenden Experten, d.h. einen „Anwalt der Sache" zu bieten,
die für das jeweilige Thema ausgewiesen kompetent sind. In der Regel wird
zu jedem Studienwochenende jemand zusätzlich eingeladen. Er oder sie halten
zu Beginn ein Einleitungsreferat von einer Stunde oder einer Dreiviertelstunde.
Das bezieht sich meist auf Texte, die zuvor zugeschickt oder gemailt wurden.
Und danach fängt die eigentliche Arbeit an. Mindestens Zweidrittel des Wochenendes
arbeiten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit konkreten Arbeitsaufträgen
in Kleingruppen von vier bis sechs Leuten. Der Studienleiter und der fachkundige
Gast gehen dann durch die verschiedenen Gruppen, begleiteten ihre Diskussionen
und stehen für Fragen zur Verfügung.
HPK:
Geben Sie mal
ein Beispiel aus Ihrer Zeit als STARK-Studienleiter.
MB: Nehmen wir die jüdische Bibelauslegung.
Da gibt es einen kleinen biblischen Text und drum herum ganz viele Kommentare
aus den Schriften der jüdischen Auslegungstradition. Das haben wir nicht
nur gezeigt, sondern die Gruppen aufgefordert, diesen Weg auszuprobieren.
Jeder bekam einen kleinen Textausschnitt und sollte verschiedene Interpretationsmöglichkeiten
erörtern und schließlich die verschiedenen, selbst gefundenen Auslegungen
präsentieren. Dann wurde aber auch gezeigt, dass bestimmte Texte im Judentum
immer nur im Zusammenhang eines bestimmten Festes gelesen werden - etwa zum
Laubhüttenfest Sukkot oder zu Pessach. Was bedeutet das eigentlich? Dazu
haben wir an Sukkot zu einem Wochenende zur jüdischen Schriftauslegung eingeladen.
Damals war in der Melanchthon-Akademie noch die liberale Jüdische Gemeinde
„Gescher Lamassoret" zu Gast. Den Anfang dieses Wochenendes haben wir
in deren Laubhütte verbracht. Dort haben wir gelesen, und der damalige Vorsitzende
der Gemeinde, Michael Lawton, hat erzählt vom Laubhüttenfest. Dadurch, dass
da nun ein liberaler Jude aus Fleisch und Blut war, wurde nebenbei alles Mögliche
ausgelöst an Fragen und an Problemen und an Irritationen. Ich habe auch diesen
Sachen Raum gegeben.
BG: Eine anderes
Beispiel ist das Bibliodrama-Wochenende. Wir wollten keine Inszenierung. Das
kann man nicht an zwei Tagen machen, selbst wenn man die Teilnehmenden gut
kennt. Das wäre unverantwortlich. Aber wir haben Elemente daraus genutzt,
um einen Text mit einer Wirklichkeit zu konfrontieren. Wir haben drei Arbeitsgruppen
gebildet und sie an drei verschiedene Orte der Stadt geschickt: die erste
Station führte mit einem Zitat aus Markus 7 - Heilung eines Taubstummen -
in den Hauptbahnhof. Die zweite verknüpfte den Besuch einer Abteilung im Krankenhaus
der Augustinerinnen mit einem Spruch aus dem 2, Korintherbrief „Ist jemand
in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist neu geworden". Und
die dritte Station lotsten wir in ein Kaufhaus mit einem Vers aus dem Hebräerbrief
„Denn Ausdauer habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tun und so die
Verheißung erlangen mögt". Die Texte sollten erst vor Ort geöffnet werden.
Dort sollte dann Sinn daraus gemacht werden. Ihre Erfahrung setzte jede Gruppe
schließlich in ein Rollenspiel um. Da ist übrigens auch wieder dieser Stadtbezug.
MB: Dieses Überraschungsmoment jenseits
der sakralen Räume, Gottes Heiligkeit in unseren alltäglichen Lebensräumen
wiederzufinden und darüber zu staunen oder zu erschrecken, das ist sicherlich
einer der stärksten Erfahrungen in dem ganzen Kurs. Das ist so fremd. Das
macht wirklich deutlich, wie anders Gott ist. Ein normaler Gottesdienst
mit seinen Gewohnheiten und regelmäßigen Ritualen vermag diesen Gedanken
kaum auszulösen.
HPK:
Ganz scharf
sind die Themen der verschiedenen Semester offenbar nicht getrennt. Wir sind
formal noch im Komplex »Biblische Theologie«. Mir scheint aber, dass an dieser
Stelle Gott bereits als der ganz Andere vorgestellt wird. Da sind wir doch
schon bei der Dogmatik? Wie wird dieses Themenfeld vorbereitet?
BG: Das machen wir undogmatisch. Aber
zunächst gibt es eine Einführung: Was ist ein Dogma? Dogmatik ist eine Sprache
des Glaubens und dient der Verständigung über Glaubensaussagen. Wo kommt
die Dogmatik her? Wie wird sie biblisch begründet? Worin besteht der Umbruch
von der Scholastik zur Reformation? Es gibt reichlich Sachinformationen,
denn es geht um Wissensvermittlung. Wir wollen Traditionen kennen lernen.
Im nächsten Schritt werden wir jede und jeden bitten, das eigene Credo in
einem Satz zu formulieren. Was ist meine Gotteserfahrung, von der ich sage,
dass ich sie unbedingt allen anderen erzählen muss? Nicht das Ambivalente,
sondern das, was sich als ein reines Ja formulieren lässt. Alle Credo-Sätze
heften wir wie einen Thesenanschlag an die Tafel, hören die Begründungen und
diskutieren sie. Aber wie gesagt, wir bleiben nicht dabei. Wir achten auf
die Regeln, durch die man zu dogmatischen Sätzen gelangt, und reflektieren
sie. So skizzieren wir also selbst die Umrisse einer Dogmatik und beobachten
zugleich den Entstehungsprozess.
HPK:
Was sind das
eigentlich für Menschen, die sich verpflichten, in zwei Jahren 20 Wochenenden
und einige zusätzliche Termine zu opfern, um an dem STARK-Studium teilzunehmen?
MB: Viele kommen aus dem Kernbereich
der Gemeinde - pietistisch geprägte Menschen ebenso wie eher gesellschaftspolitisch
motivierte, einige Presbyterinnen und Presbyter. Bei vielen waren lebensgeschichtliche
Krisen im Spiel, die sie veranlassten, sich auf die Suche nach neuen Erkenntnissen
und Antworten auf ihre Fragen zu machen. Einige Kursteilnehmer hatten sich
bereits vom kirchlichen Leben verabschiedet, sahen in STARK aber eine Möglichkeit,
sich abseits von der Gemeinde intensiv und anspruchsvoll mit Glauben, Theologie
und Religion zu beschäftigen, unabhängige Meinungen hören zu können und frei
eine eigene zu entwickeln.
HPK:
Im
Judentum hat das Tora-Lernen fast einen höheren Wert als der regelmäßige
Gottesdienstbesuch. Gemeint ist nicht bloßes Textwissen, sondern die ernsthafte
Auseinandersetzung mit der Schrift selbst und den Debatten darüber: Hintergründen,
Bedeutungen und Möglichkeiten der Interpretation.
BG: Lernen ist eine Freiheitserfahrung:
„Mir passiert etwas ganz Tolles. Mir passiert etwas, was ich vorher nicht
ausgerechnet habe, aber das tut gut. Es erschließt mir einen Raum, in dem
ich vorher nicht sein konnte: einen Erkenntnisraum, einen Anmutungsraum,
vielleicht auch einen Anbetungsraum." Neue Räume betreten zu können,
das sind Freiheitserfahrungen. So kann man auch das Evangelium neu
hören.
MB: Ich würde es gern noch ergänzen:
Lernen ist auch Heiligkeitserfahrung: Gottes und des eigenen Lebens. Einige
Menschen in meinem Kurs - und vielleicht ist das ja auch repräsentativ -
standen lebensgeschichtlich vor der Frage: Wie kann ich denn überhaupt noch
einen Zugang zu diesem Raum finden, wo ich Gott suche? Bin ich nicht draußen?
Ich denke, diese Menschen sind anders aus diesem Kurs gekommen: Weil sie die
Sache Gottes wieder angetastet haben, zusammen mit „den anderen".
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