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Andacht
Stadtkirchenverband
Köln am 10.11.03
Erinnerung an die Reichsprogromnacht
Auslegung
zum
Psalm
74
Brigitte
Gensch
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Begrüßung
mit Hinweis auf das Thema und Veranstaltungen (z.B. 18.00 am
Löwenbrunnen, Jabne-Schule, Apernstr.; 16.00 Uhr Synagoge Roonstr.)
Lied 452, 1.2.6
Votum
Wir sind zusammen im Namen des Einen G"ttes,
des G"ttes Abrahams, Isaaks und Jakobs,
Sarah, Rifkas, Rachels und Leas,
Vater Jesu Christi.
Amen.
Ich lese uns Verse aus einem Psalm, dem
Psalm
74,
der leider nicht in unser EG aufgenommen wurde:
G"tt,
gedenke deiner Gemeinde,
die du vorzeiten erworben
und dir zum Erbteil erlöst hast,
an den Berg Zion, auf dem du wohnst.
Richte doch deine Schritte zu dem, was so lang wüst liegt.
Der Feind hat alles verheert im Heiligtum.
Deine Widersacher brüllen in deinem Hause
und stellen ihre Zeichen darin auf.
Hoch sieht man Äxte sich heben
wie im Dickicht des Waldes.
Sie zerschlagen all dein Schnitzwerk mit Beilen und Hacken.
Sie verbrennen dein Heiligtum,
bis auf den Grund entweihen sie die Wohnung deines Namens.
sie sprechen in ihrem Herzen:
Laßt uns sie ganz unterdrücken!
Sie verbrennen alle G"tteshäuser im Lande.
Unsere Zeichen sehen wir nicht,
kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der etwas weiß.
Ach G"tt, wie lange soll der Widersacher noch schmähen
und der Feind deinen Namen immerfort lästern?
Warum ziehst du deine Hand zurück?
Nimm deine Rechte aus dem Gewand und mach ein Ende!
So gedenke doch, HERR, wie der Feind schmäht
und ein törichtes Volk deinen Namen lästert.
Gib deine Taube nicht den Tieren preis;
das Leben deiner Elenden vergiß nicht für immer.
Gedenke deines Bundes;
denn die dunklen Winkel des Lande sind voll Frevel.
Laß den Geringen nicht beschämt davongehen,
laß die Armen und Elenden rühmen deinen Namen.
Mach dich auf, G"tt, und führe deine Sache;
denk die Schmach, die die täglich von den Toren widerfährt.
Vergiß nicht das Geschrei deiner Feinde;
das Toben deiner Widersacher wird länger, je größer.
Amen.
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Lied 275, 1.2.6
'Sie verbrennen Dein Heiligtum...'
'Brennendes Pergament, aber die Buchstaben fliegen empor'
Auslegung
„Sie verbrennen dein Heiligtum... Sie verbrennen alle
G"tteshäuser im Lande“
-
nach der sog. Reichskristallnacht trug
Dietrich Bonhoeffer
in seine
Bibel neben diese Verse aus dem Psalm 74 ein: 9.11.38.
Nun, das Heiligtum des Tempels in Jerusalem ist seit Roms Triumph über
Israel im Jahre 70 n. zerstört geblieben, und nur ein verschwindend
kleiner Teil der 1938 verbrannten G"tteshäuser hier in unserem Land
ist neu errichtet worden.
Ein Tempelgerät aber, das einst im Jerusalemer Tempel seinen Dienst
versah, ist aus dem Jerusalemer Stadtbild nicht wegzudenken,
wenngleich in neuer und veränderter Gestalt: der siebenarmige
Leuchter, die riesige, mehrere Meter hohe
Menora
vor der Knesset, dem
Parlament des Staates Israel.
29 Motive aus der Geschichte des Volkes
Israel sind auf 29 Einzelreliefs dargestellt worden, und eines der
Motive, das mir zum heutigen Erinnerungstag besonders zu passen
scheint, habe ich mitgebracht: es zeigt den gefesselten und von einer
Tora-Rolle eingewickelten
Rabbi Chanina ben Teradion
in seinen letzten
Lebens-momenten, bevor ihn das Feuer des Martyriums ganz verschlingen
wird.
Wer war dieser Rabbi?
Chanina lebte zur Zeit der römischen Herrschaft über Israel
/Palästina, im 2.Jh. n. Kaiser Hadrian hatte die wichtigsten Elemente
jüdischen Lebens verboten, z.B. die Einhaltung des Schabbat und das
Tora-Studium.
Von Rabbi Chanina und seinem Geschick berichtet uns der
Talmud
so:
„Als Rabbi Josi ben Kisma krank war, besuchte ihn Rabbi Chanina ben
Teradion. R. Josi sagte zu ihm:
`Mein Bruder, weißt du denn nicht, daß diesem Volk (Rom) die Herrschft
vom Himmel gegeben wurde? G"ttes Haus (das Heiligtum) hat es
verwüstet, Seinen Tempel gebrandschatzt, seine Getreuen getötet und
G"ttes Wohltaten vernichtet. Und noch immer hat dieses Volk (Rom)
Bestand. Und nun höre ich, daß du dich weiterhin mit der Tora befaßt
und öffentlich mit der geöffneten Tora auf deinem Schoß zusammenrufst
...es soll mich wundern, wenn sie dich nicht mit der Torarolle
verbrennen werden.´
Man sagte: Einige Tage später starb R. Josi ben Kisma. Alle Großen von
Rom kamen, um ihn zu begraben, es wurde ein großer TrauerG"ttesdienst
gehalten.
Als die Römer davon zurückkehrten, trafen sie R. Chanina ben Teradion
beim Lehren der Tora. Er hatte eine große Menge um sich versammelt,
und die Torarolle lag auf seinem Schoß, und sie nahmen ihn mit. Sie
wickelten ihn in die Torarolle, legten Reisig um ihn herum und
steckten sie in Brand. Sie nahmen schwere Wolle, die sie naß machten
und auf sein Herz legten, damit seine Seele ihn nicht zu schnell
verließe. Seine Tochter sprach zu ihm:
`Abba (Vater), daß ich dich so sehen muß´.
Er sagte zu ihr:
`Wenn ich allein verbrannt würde, wäre es mir schwergefallen. Da ich
aber mit der Torarolle um mich herum verbrannt werde, ist es so, daß
wer darum trauert, was der Tora angetan wird, auch um mich trauern
wird.´
Seine Schüler sprachen zu ihm:
`Rabbi, was siehst du?´
Er sagte ihnen:
`Brennendes Pergament, aber die Buchstaben fliegen empor.´
Seine Schüler sagten:
`Mach es genauso. Öffne deinen Mund, so daß das Feuer nach innen
schlägt, dann verbrennt dein Leib und deine Seele fliegt empor.´
Er sprach zu ihnen:
`Es ist besser, Er nimmt sie weg, Der sie auch gegeben hat.´
Und er wollte sich nicht das Leben nehmen. Der Henker sprach zu ihm:
`Rabbi, wenn ich die Flammen um dich auflodern lasse und die schwere
Wolle von deinem Herzen nehme, bringst du mich dann in die Kommende
Welt?´
Er sprach zu ihm: `Ja´.
`Schwöre es mir.´
Er schwor es. Zugleich ließ der Henker die Flammen um ihn herum
auflodern und nahme die schwere Wolle von seinem Herzen, so daß die
Seele ihn schnell verließ. Der Henker tat einen Sprung und ließ sich
ins Feuer fallen. Und es wurde eine Stimme aus dem Himmel gehört, die
sprach:
`R. Chanina ben Teradion und sein Henker sind für die Kommende Welt
bestimmt.“
(bT,
AZ 18a)
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Brennendes
Pergament, aber die
Buchstaben
fliegen empor:
sehen wir auf das Bild!
Noch haften die Buchstaben auf der Tora-Rolle;
zwei Buchstaben kann man erkennen. Ein Alef am oberen Rollenrand und
ein Schin im unteren Drittel. Der erste Buchstabe des hebräischen
Alphabeths, das Alef , es bedeutet Anfang, erster Atem und Geisthauch,
so wie derjenige, den G"tt dem ersten Menschen, dem Adam, eimhauchte.
Auch dieser beginnt mit einem Alef, sein Name wie seine Existenz. Der
zweite Buchstabe, das Schin , der Dreizack, bedeutet sowohl Zahn als
auch Feuer, denn wie die Zähne so zermalmt auch das Feuer. Aber das
Schin verweist auch auf einen G"ttesnamen, EL Schaddai, so wird G"tt
genannt, wenn Seine Allmacht angesprochen ist.
Liest man die Buchstaben von oben nach unten, so ergeben sie das Wort
„esch“, welches „Feuer“ bedeutet. Mit der Tora, am Berge Sinai im
Feuer gegeben, verbindet sich G"tt mit Seinem Volk, schließt Er den
Bund, auf daß der Mensch, auf daß Adam lebe und nicht sterbe. Adam und
El-Schaddai, verbunden im Wort, verbunden im Feuer der Tora.
Und nun ein anderes Feuer, nicht zum Leben , sondern zum Tod, nicht
zum Bunde, sondern auflösend und trennend: den Leib von der Seele, die
Buchstaben von der Einheit des Wortes. Herausgelöst aus der
Worteinheit fliegen sie davon und nach oben, so leicht wie sie sind,
so seelenleicht – und haben
„ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“ (Celan, Todesfuge).
Hinauffliegend in den Himmel, werden die einzelnen Buchstaben bewahrt,
dorthin wenigstens reicht keine Vernichtungsgewalt, dort sind sie vor
ihren Verfolgern sicher. Dort werden sie neu gefügt und kommen
vielleicht dereienst zurück, um erneut zu erzählen.
Das luftige Oben und die Himmel: ein Rettungsort und ein Exil auf
Zeit, nicht jenseits aller Zeit. Mitten in aller Zerstörung und
Vernichtung durch das Feuer hält die jüdische Hoffnung an einer
Zukunft auch des Verbrannten fest, so jedenfalls tröstet R. Chanina
seine Schüler, als sie ihn fragen, was er denn sehe.
Geht es rechtens zu, so wird eine Torarolle, wenn sie für den
G"ttesdienstlichen Dienst unbrauchbar geworden ist, begraben - gleich
einem Menschen. Und die Menschenähnlichkeit hörte nicht auf, als das
Recht sehr wohl aufhörte. Aus dem ganzen Protektorat Böhmen, Mähren
und der Slowakei werden die Torarollen verschleppt, insgesamt mehr als
1500, nach Prag deportiert, dort etikettiert und numeriert, um in
einem perversen Museum der Nazis dereinst nach dem „Endsieg“ von einer
ausgelöschten Kultur Kunde zu geben. Manche Torarollen sind in einen
Gebetsschal oder in Kleidungsstücke eingewickelt, als ob sie die Rolle
schützen könnten; in manchen ist eine Botschaft versteckt, gleich
einem Kassiber, als ob die Torarolle ihn weitergeben könnte.
Beschädigte, angesengte Rollen sind es, mit -
wie
Elie Wiesel
sagt -
"verstümmelten Buchstaben, verwundeten Worten".
Mitte der 60er Jahre beginnen Schreiber - wie Ärzte - einzelne
Buchstaben und Worte zu heilen, einzelnes nachzeichnend, ausbessernd,
neu schreibend. Etliche Rollen können so für den G"ttesdienstlichen
Gebrauch wiederhergestellt werden, viele aber sind so beschädigt, daß
sie z.B. nach Yad Vaschem gebracht werden, als reine
Erinnerungszeichen.
Manchmal bringt auch ein Grab in der Erde die Rettung: eine besonders
wertvolle
Torarolle
der
Wuppertaler Synagoge
wurde in der
Reichsprogomnacht von christlichen Nachbarn aus der brennenden
Synagoge geborgen und vergraben, um sie später den rechtmäßigen
Besitzern zurückzugeben. Doch erst lange nach dem Krieg sollte dies
geschehen. Zunächst wandert die gerettete Rolle nach Cleveland in den
USA, erworben von Rabbiner
Goodblatt, der als Mlitärrabbiner der
US-Armee in Fürth stationiert war. Die Rolle wird restauriert und
viele Jahre im G"ttesdienst genutzt, bis die Schrift erneut verblaßt.
Man deponiert sie in einem Safe eines Toraschreibers in Jerusalem.
Bevor sie nach Yad Vaschem gebracht wird, erwirbt sie 1998 der
damalige Rabbiner der Düsseldorfer Gemeinde
Michael Goldberger.
Zusammen mit einer neuen Rolle bringt er die alte Tora nach
Düsseldorf. Und anläßlich der Einweihung der neuen Synagoge in
Wuppertal vor einem Jahr schenkte die Düsseldorfer Gemeinde derjenigen
in Wuppertal diese alte, ihre alte Tora. Zusammen mit neuen
Tora-Rollen steht sie dort im Schrein der Synagoge.
Dem G"ttesdienst kann sie nicht mehr dienen, aber sie kann eine
Rettungsgeschichte erzählen:
daß ein Grab ein Ort der Rettung sein kann, es sei in der Erde oder im
Himmel.
Amen.
Nach der Auslegung 237 (Ben-Chorin)
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