Liebe
Besucherinnen und
Besucher, liebe
Gemeinde,
. . .
als wenn wir das nicht erstrebten: Eindeutigkeit,
meine ich. Als wenn uns das nicht irritierte: Zweideutigkeit, Mehrdeutigkeit,
Uneindeutigkeit.
Das Zwielicht, in das Bedeutungen getaucht werden, es nimmt
uns die klare Orientierung und lockt uns vielleicht auf Irrwege.
Und nun spricht unser Psalmvers gar von Uneindeutigkeiten,
die in das Gespräch mit G“tt sich einmischen, von offenbar solchen Mehrdeutigkeiten,
die wir nicht vermeiden können. G“tt zwar redet Eines, aber wir hören ein Zweifaches,
also ein Vielfaches. G“tt schickt Seine Rede, und Er schickt sie in die Differenz.
Er läßt sie los und überläßt sie unserem Hören. Wir aber hören nicht eindeutig,
sondern mindestens auf zweierlei Weise. Wir verstehen immer anders, weil wir
nie ganz und gar verstehen. Würden wir das Gehörte und Gesagte stets deutlich
und restlos und also ganz und gar eindeutig verstehen, dann würde all unser
Reden und Hören und Wiederreden, auch Widersprechen aufhören, sofort. Alles
Gespräch hätte ein Ende – wir hätten einander nichts mehr zu sagen.
Zum Sprechen, zum Gespräch gehört das Dunkel, einander nicht
klar und restlos zu verstehen; so ist es zwischen uns Menschen, so ist es auch
zwischen uns und G“tt. Es gibt Menschen, die finden das unheimlich, und zwar
so unheimlich, daß sie lieber zu irgendeiner Art und Weise des Fundamentalismus
Zuflucht nehmen: sie glauben, die Bibel wörtlich nehmen zu können – was immer
das heißt – aber das zumindest heißt es für sie: es gibt immer nur einen
Sinn, eine Bedeutung, mehrere sind von Übel oder noch von woanders
her...
Es gibt aber auch Menschen, die glauben, daß es etwas Wunderbares
und überaus Geistreiches, G“ttesgeistreiches ist, G“ttes Rede mindestens zweifach
hören zu können. Es gibt Menschen, die sich an der Differenz erfreuen können.
Am 9. Oktober ist Jacques Derrida gestorben, ein
Philosoph, der sein ganzes geistreiches Leben darüber nachgedacht hat, daß unser
Sprechen und unsere Sprache nicht-eindeutig ist. Derrida,
1930 in Algerien geboren, mußte, weil jüdisch, als 12Jähreiger die Schule verlassen
– die Gesetze waren verschärft worden. Gleichwohl, gerade in der Kultur, die
ihn ausgrenzen wollte, kam er zu Weltruhm. Aufgewachsen mit Hebräisch und Arabisch,
verwandelt er sich die französiche Sprache auf wundersame Weise an, hört ihr
ungeahnte Möglichkeiten ab – ein Mensch von der Peripherie, vom Rande Europas,
und gerade so gibt er der Mitte Europas, der französischen wie der deutschen
Philosophie (und nicht nur der Philosophie) neue Impulse.
Und vielleicht sind solche Randgänger und Grenzbewohner besonders
sensibel für Differenzen, Mehrdeutigkeiten. Derrida zumindest hat sich zur französischen
Sprache nie wie ein Besitzender verhalten, sondern wie ein Liebender, der die
Eigensphäre der Geliebten, der Sprache also, achtete; der auf sie hörte, ihr
etwas ablauschte. So auch das Leitwort Derridas, welches die „differance“
ist: er schrieb es anders als gewöhnlich, mit „a“, nicht mit „e“, nicht „difference“,
sondern „differance“.
Was er damit besagen wollte, ist dies: es gibt nicht nur ab
und an Differenzen und mehrdeutige Rede, sondern zunächst und durchgängig ist
jeder Sinn, den wir behaupten, in Konkurrenz mit anderen Bedeutungen. Und ob
uns das nun klar vor Augen ist oder nicht und selbst wenn wir meinen, etwas
ganz eindeutig zu sagen: dann tun wir das, weil es anderes gibt, von dem wir
uns abgrenzen.
Unsere Klarheit hat das Dunkel um sich, das Dunkel der anderen
Menschen, die sprechen, die schon gesprochen haben, die bald sprechen werden.
Eines hat G“tt geredet, zwei sinds, die ich gehört habe: alles,
was ich von G“tt höre, kommt mindestens als Paar, kommt paarweise zum Verstehen.
Jedes Verständnis eines Bibelverses, einer biblischen Geschichte, einer Handlung
G“ttes ist sogleich in Gesellschaft. Und wenn ich mich für ein Verständnis entscheide,
dann kann ich das nur tun, weil mein Verstehen sich von einer anderen Interpretation
unterscheidet, weil es eine andere Interpretation überhaupt gibt. Wäre sie
nicht, wäre die meinige auch nicht. Keine darf da zur Herrschaft wollen, die
andere zu verdrängen.
Nach jüdischer Tradition sind alle Seelen in die Schrift G“ttes,
die heilige Tora, eingepflanzt. Die Seelen sind und bleiben lebendig, denn die
Schrift G“ttes ist der Baum des Lebens. Verstehen wir es für heute so: Jede
Seele, die eingepflanzt ist, bringt Frucht, denn sie beschäftigt sich mit der
Rede G“ttes, welche in der Heiligen Schrift, nun ja, „festgehalten“ ist. Und
ihrer Früchte sind soviele, wie es Menschen gibt, die G“ttes Rede hören, also
verstehen – auf die eine und auf die andere Weise.
Und das wird G“tt erfreuen.
Amen.