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Eines hat G“tt geredet, zwei sinds, die ich gehört habe...

[Ps 62, 12]

 

Brigitte Gensch

 

 

 

Andacht in der Antoniterkirche

am 18.10.04


Liebe Besucherinnen und Besucher, liebe Gemeinde,

. . . als wenn wir das nicht erstrebten: Eindeutigkeit, meine ich. Als wenn uns das nicht irritierte: Zweideutigkeit, Mehrdeutigkeit, Uneindeutigkeit.

Das Zwielicht, in das Bedeutungen getaucht werden, es nimmt uns die klare Orientierung und lockt uns vielleicht auf Irrwege.

Und nun spricht unser Psalmvers gar von Uneindeutigkeiten, die in das Ge­spräch mit G“tt sich einmischen, von offenbar solchen Mehrdeutigkeiten, die wir nicht vermeiden können. G“tt zwar redet Eines, aber wir hören ein Zweifaches, also ein Vielfaches. G“tt schickt Seine Rede, und Er schickt sie in die Differenz. Er läßt sie los und überläßt sie unserem Hören. Wir aber hören nicht eindeutig, sondern mindestens auf zweierlei Weise. Wir verste­hen immer anders, weil wir nie ganz und gar verstehen. Würden wir das Gehörte und Gesagte stets deut­lich und restlos und also ganz und gar ein­deutig verstehen, dann würde all un­ser Reden und Hören und Wiederre­den, auch Widersprechen aufhören, sofort. Alles Gespräch hätte ein Ende – wir hätten einander nichts mehr zu sagen.

Zum Sprechen, zum Gespräch gehört das Dunkel, einander nicht klar und restlos zu verstehen; so ist es zwischen uns Menschen, so ist es auch zwischen uns und G“tt. Es gibt Menschen, die finden das unheimlich, und zwar so unheimlich, daß sie lie­ber zu irgendeiner Art und Weise des Fundamentalismus Zuflucht neh­men: sie glauben, die Bibel wörtlich nehmen zu können – was immer das heißt – aber das zumindest heißt es für sie: es gibt immer nur einen Sinn, eine Be­deutung, mehrere sind von Übel oder noch von woanders her...

Es gibt aber auch Menschen, die glauben, daß es etwas Wunderbares und überaus Geistreiches, G“ttesgeistreiches ist, G“ttes Rede mindestens zwei­fach hören zu können. Es gibt Menschen, die sich an der Differenz er­freuen können.

 

       Am 9. Oktober ist Jacques Derrida gestorben, ein Philosoph, der sein ganzes geistreiches Leben darüber nachgedacht hat, daß unser Spre­chen und unsere Sprache nicht-eindeutig ist. Derrida, 1930 in Algerien ge­boren, mußte, weil jüdisch, als 12Jähreiger die Schule verlassen – die Ge­setze waren ver­schärft worden. Gleichwohl, gerade in der Kultur, die ihn ausgrenzen wollte, kam er zu Weltruhm. Aufgewachsen mit Hebräisch und Arabisch, verwandelt er sich die französiche Sprache auf wundersame Weise an, hört ihr ungeahnte Möglichkeiten ab – ein Mensch von der Peri­pherie, vom Rande Europas, und gerade so gibt er der Mitte Europas, der französischen wie der deutschen Phi­losophie (und nicht nur der Philoso­phie) neue Impulse.

Und vielleicht sind solche Randgänger und Grenzbewohner besonders sensibel für Differenzen, Mehrdeutigkeiten. Derrida zumindest hat sich zur französischen Sprache nie wie ein Besitzender verhalten, sondern wie ein Liebender, der die Eigensphäre der Geliebten, der Sprache also, achtete; der auf sie hörte, ihr et­was ablauschte. So auch das Leitwort Derridas, wel­ches die „differance“ ist: er schrieb es anders als gewöhnlich, mit „a“, nicht mit „e“, nicht „difference“, son­dern „differance“.

Was er damit besagen wollte, ist dies: es gibt nicht nur ab und an Differen­zen und mehrdeutige Rede, sondern zunächst und durchgängig ist jeder Sinn, den wir behaupten, in Konkurrenz mit anderen Bedeutungen. Und ob uns das nun klar vor Augen ist oder nicht und selbst wenn wir meinen, et­was ganz eindeutig zu sagen: dann tun wir das, weil es anderes gibt, von dem wir uns abgrenzen.

Unsere Klarheit hat das Dunkel um sich, das Dunkel der anderen Men­schen, die sprechen, die schon gesprochen haben, die bald sprechen wer­den.

Eines hat G“tt geredet, zwei sinds, die ich gehört habe: alles, was ich von G“tt höre, kommt mindestens als Paar, kommt paarweise zum Verstehen. Jedes Verständnis eines Bibelverses, einer biblischen Geschichte, einer Handlung G“ttes ist sogleich in Gesellschaft. Und wenn ich mich für ein Verständnis ent­scheide, dann kann ich das nur tun, weil mein Verstehen sich von einer ande­ren Interpretation unterscheidet, weil es eine andere Interpretation überhaupt gibt. Wäre sie nicht, wäre die meinige auch nicht. Keine darf da zur Herrschaft wollen, die andere zu verdrängen.

 

         Nach  jüdischer Tradition sind alle Seelen in die Schrift G“ttes, die heilige Tora, eingepflanzt. Die Seelen sind und bleiben lebendig, denn die Schrift G“ttes ist der Baum des Lebens. Verstehen wir es für heute so: Jede Seele, die einge­pflanzt ist, bringt Frucht, denn sie beschäftigt sich mit der Rede G“ttes, welche in der Heiligen Schrift, nun ja, „festgehalten“ ist. Und ihrer Früchte sind soviele, wie es Menschen gibt, die G“ttes Rede hören, also verstehen – auf die eine und auf die andere Weise.

Und das wird G“tt erfreuen.

Amen.

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18.10.04