Liebe
Gemeinde!
"G"tt
ist mein Recht". Davon ist der
Evangelist Lukas überzeugt. Und
damit will er seine Gemeinde ermutigen, die
Christengemeinde dort im damaligen Jerusalem. Denn
der Ermutigung bedarf sie, so entmutigt und tief
traurig wie sie ist.
Der jüdische Aufstand gegen die Weltmacht Rom ist
niedergeschlagen, Jerusalem verwüstet,
die Mauern geschleift, der Tempel zerstört. Weil der
Tempel ver-loren ist, fehlt der Jerusalemer Gemeinde
der frühen Christenheit der lebendige Mittelpunkt.
Denn mehrmals täglich kam man dort zum Gebet
zusammen und erfuhr G"ttes Nähe; nur ein Gebet weit
entfernt war G"tt gewesen, dort im Tempel -
jahrhundertelang verhielt es sich so. -- Doch nun:
Rom hatte aus der Gemeinde das lebendige Zentrum
herausgebrochen. Oder wenn Sie mir den Vergleich
gestatten:
Witzhelden
wird belagert und eingenommen, das Dorfzentrum verwüstet
und Ihre / unsere kleine und schmucke Dorfkirche, in
der ich heute zum ersten Mal zu Ihnen spreche, diese
kleine Kirche wird niedergebrannt. Mehr noch: nicht
nur die Kirche, sondern auch das Gemeindehaus, die
Diakoniestation und das entferntere Sozialamt fallen
der Zerstörung anheim. Der damalige Tempel nämlich
diente nicht nur der geistig-geistlichen Versammlung,
nein, dort kam man auch zusammen, um sozial Bedürftige,
Arme und Witwen zu versorgen. Bedürftige und Witwen
fanden sich ein, um das Lebensnotwendige, ein gutes
Wort eingeschlossen, zu empfangen.
Nun
aber: wo war denn G"tt? Warum hatte Er nicht
eingegriffen, die Katastrophe abzuwenden? Sicher, das
Leben ging weiter, irgendwie - doch auch noch mit
Sinn?
Warum zögerte G"tt Sein Kommen, Sein Wieder-Kommen;
hatte er es nicht versprochen:
Sein Reich zu bringen und den Erdkreis in
Gerechtigkeit zu richten?
Mit solchen Fragen müht und ermüdet sich die
Gemeinde, zu der der Evangelist Lukas spricht. Natürlich
und genauer : nicht Lukas selbst spricht, vielmehr lässt
er Jesus erzählen - das Gleichnis nämlich von der
beharrlichen Witwe und dem ungerechten Richter.
Einer
Witwe ist Unrecht widerfahren. Aus eigener Kraft und
Macht wird ihr kein Recht werden, und so wendet sie
sich an den zuständigen Richter. Worüber der
Rechtsstreit geht, das erfahren wir nicht. Vielleicht
sind es Geld- und Erbschafts-angelegenheiten.
Vielleicht will sogar die eigene Familie die Witwe um
ihr rechtmäßiges Erbe prellen. Vielleicht...
Gewiß aber ist, dass die Witwe im Recht ist und dass
der Richter sich sogleich ihrer Sache annehmen müsste
- würde er denn die Bezeichnung "Richter"
verdienen. Doch unsere mutige Witwe trifft auf einen
rechten Richter "Gnadenlos". Hochnäsig,
amts- und rechtsvergessen, G"tt- und
menschenverachtend. Statt dem Recht zu dienen und zur
Geltung zu verschaffen, dünkt er sich über das
Recht erhaben. Willkürlich und nach eigenem Belieben
wendet er das Recht einmal an, um es ein anderes Mal
wieder außer Kraft zu setzen - er, der vermeintliche
Herr des Rechtes. - Herr des Rechts aber ist allein G"tt.
G"tt allein ist die Quelle allen Rechts. Der G"tt,
von dem uns die Bibel erzählt, liebt das Recht und
die Gerech-tigkeit; denn Er will, dass gerade die
Schutzlosen vom Recht beschützt werden. Er will,
dass eben die, die unter die Räder der Macht und der
Gewalt kommen, die Genugtuung und die Entschädigung
eines gerechten Urteils erfahren. G"tt liebt das
Recht, denn Er ist barmherzig gegen die Schwachen.
Weil aber der un-gerechte Richter ohne G"ttesfurcht
ist, deshalb verachtet er das Recht und alle, die des
Rechts bedürfen.
Die
Witwe jedoch bleibt beharrlich, sie beharrt auf ihrer
rechten Sache und for-dert immer und immer wieder
Zutritt zum Richter:
"Schaffe mir Recht, verhilf mir zu meinem Recht",
so liegt sie dem Richter an-haltend in den Ohren,
unermüdlich, ohne zu ermüden. Und jetzt geschieht
das Unerwartete: der harte Richter gibt nach;
widerwillig und um die Sache aus den Augen und aus
den Ohren zu haben, steigt der hohe Herr vom Thron
seiner Will-kür und beugt sich unter das Recht. So
muß, wenigstens für dieses Mal, das Hohe herab, das
Niedrige aber wird erhöht - der Witwe wird ihr Recht
zuteil.
"G"tt ist mein Recht".
Deutschland
im Juli 1937. Ernst Willner
wohnt mit seiner Mutter in der Benratherstr.32 in
Hilden, einem Stadtteil von Düsseldorf. Ernst
Willner arbeitet als Vertreter in der Tabakbranche.
Um seinen Beruf auch weiterhin ausüben zu können,
muß er die Ausstellung einer sog. Legitimationskarte
bei der Hildener Stadtverwaltung beantragen. Ernst
Willner ist Jude; und vor der sog. Machtergreifung im
Jahre 1933 war er Mitglied im "Reichsbanner",
einer Unterorganisation der SPD. Die Stadtverwaltung
teilt dem Antragsteller mit, dass sie die beantragte
Karte nicht ausstellen werde. Willner erhebt
daraufhin Klage beim Düsselsdorfer
Bezirksverwaltungsgericht. Im Januar 1938 entscheidet
das Gericht gegen Will-ner. Die Klage wird mit
folgender Urteilsbegründung abgewisen:
"Da
die Legitimationskarte immer für die Dauer eines
Kalenderjahres ausgestellt wird, das Jahr 1937 aber
inzwischen abgelaufen ist, besteht für den Antrag
des Klägers kein Raum mehr. Der Streit wird in der
Hauptsache für erledigt erklärt."
Das
Gericht fügt noch hinzu, dass übrigens allein die
Mitgliedschaft im "Reichsbanner"
hinreichender Grund gewesen wäre, die Klage
abzuweisen.
Denn der "Reichsbanner" sei eine stark
marxistisch eingestellte Organisation, ein Umstand,
"der" - so der gestelzte Ton der
Urteilsbegründung - "der zu Zweifeln an der
Zuverlässigkeit des Klägers Anlaß gibt und die
Annahme rechtfertigt, dass er die für die Ausübung
des Gewerbebetriebes erforderliche Zuverlässigkeit
nicht besitzt." Soweit das Gericht.
Ernst Willner gibt nicht auf; er begehrt sein Recht
und geht in Revision. Doch auch das Oberverwaltungs-gericht
in Berlin entscheidet gegen ihn. Eine fadenscheinige,
formaljuristische Begründung bringt Willner endgültig
um sein Recht.
9.
November 1938: das braune Deutschland feiert
wie an jedem 9.Nov. seit 1933 den sog. Marsch auf die
Feldherrnhalle von 1923. Nach der offiziellen Feier
ver-sammelt man sich auch in Düsseldorf zu einer
Nachfeier. Die SA und SS trifft sich im "Deutschen
Haus". Das "Deutsche Haus" liegt in
der Benratherstraße, etwa 150m von der Wohnung der
Familie Willner entfernt. Noch vor Mitter-nacht erhält
der Hildener Ortsgruppenleiter Thiele telephonisch
den Befehl, "et-was" - wie es später im
Vernehmungsprotokoll heißt - "etwas gegen die
Juden zu unternehmen".
Um den Pogrom gegen die jüdischen Einwohner in
Hilden durchzuführen, wird der SS-Mann Josef
Buchbinder gerufen, denn er ist ortskundig und kennt
die Ad-ressen der jüdischen Bewohner. Der von
Buchbinder zusammengestellte SS-Trupp beginnt sein mörderisches
Tun im Hause der Familie Willner. Türen wer-den
eingetreten, Fensterscheiben gehen zu Bruch. Das
erste Opfer ist Mutter Willner, sie wird erschossen.
Der Sohn ist nicht aufzufinden. So kehrt der Trupp später
in der Nacht noch einmal zum Haus der Familie Willner
zurück. Buchbin-der dringt erneut ins Innere des
Hauses ein, dort trifft er auf den verletzten und
blutüberströmten Ernst Willner. Buchbinder setzt
seinem Opfer die Pistole an die Schläfe und schießt...
So nahm man Ernst Willner zunächst sein
Recht und dann sein Leben.
"G"tt ist mein Recht".
Lassen
Sie sich, liebe Gemeinde, noch
einmal zu unserem Predigttext zurückgeleiten, zu der
Ermutigungsrede Jesu, die er an seine müden Freunde
und Freundin-nen richtet. Weit und verheißungsvoll
reißt Jesus den Horizont der Zukunft auf: G"tt, der
Herr und Richter, wird denen, die Er erwählt hat,
bald Recht schaffen. Der Menschensohn wird kommen und
mit ihm G"ttes Reich des gerechten Friedens.
Wer aber sind die, die G"tt erwählt hat? Wer sind
die Auserwählten G"ttes?
Es
sind die Menschen, die G"ttes Reich und Gerechtigkeit
gewählt haben.
Es sind die, die sich die Hoffnung nicht ausreden
lassen, sondern bei ihr bleiben.
Bei der Hoffnung: "dein Reich komme".
Es sind diejenigen, die wie unsere Witwe und wie der
Beter unseres Ein-gangspsalmes allem Hohen in den
Ohren liegen und rufen:
"Schaffe mir Recht" - der Hohe sei G"tt
oder ein Richter auf Erden.
Es sind diejenigen, die aller Verzweiflung und allen
wirklichen Nöten zum Trotz an der Hoffnung
festhalten, nicht in erster Linie für sich selbst,
sondern:
#
denen
zugute, die keine Hoffnung haben;
#
denen
zugute, die nicht mehr nach G"ttes Recht rufen können,
weil man sie zum Schweigen gebracht hat;
#
denen
zugute, die alles G"ttvertrauen und allen
Gerechtigkeitsglauben ver-loren haben, weil sie schon
zulange Gewalt und Unrecht erleiden müssen.
Alle, die G"tt und Sein Recht gewählt haben, all die
hat G"tt lieb.
Und
deshalb jetzt und zukünftig:
"Marana tha"- d.h. übersetzt: "Unser
Herr, komm". Denn es wird Zeit, dass du kommst."
Amen.
Und der Friede G"ttes, der höher ist
als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in
Christus Jesus. Amen.
(11.11.2001 - erste Predigt in der
Gemeinde Witzhelden)