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Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist,
der da war und der da kommt!

   Liebe Gemeinde!
Ein alter Mann kehrt nachhause, kräftig ist er, mit eisgrauem Haar und Bart und hartem Gesichtsausdruck. Halb seemännisch gekleidet, die Tracht recht abgenutzt.
Das Schiff, darauf er achtern steht, kreuzt vor der norwegischen Küste; die  See ist stürmisch – wie das ganze Leben unseres Graukopfes. Ein Menschenleben fast ist es her, daß er seine Heimat und sein Liebstes verließ, ein unsteter Weltenbummler und Globetrotter; Welle folgte auf Welle, Land auf Land, Passion auf Passion, doch immer nur getrieben und sich vorwärts treibend, läßt ihn alles, was er anpackt, bald wieder los. An nichts haftet er, bei keinem bleibt er.
Das Schiff läuft auf Grund, der Alte kann sich an Land retten. Er verkriecht sich im Gehölz des Hochwaldes, und auf der Suche nach Eßbarem findet er eine Zwiebel. Er beginnt sie zu schälen, Hülle für Hülle, Schicht für Schicht:
die erste Haut, die Passagiershaut, darunter das Goldgräber-Ich – fort damit. Grob darunter der Pelzjägersmann; und hier: sehr saftig der Altertumsforscher. Fast zuletzt und sehr übel riechend: der Prophet.
So rupft der Alte die ganze Zwiebel auseinander, eine Schicht immer noch dünner als die andere, um sie dann alle schimpfend fortzuwerfen – einen Kern hat er nicht gefunden. 
Er rennt davon; sein Fuß stört einige Knäuel am Boden auf: 
„Wir sind Deine ungedachten Gedanken“, klagen sie, und unser Held gerät ins Stolpern. Der Wind peitscht ihm welke Blätter ins Gesicht: 
„Wir sind Deine ungesagten Worte“. Die Lüfte sausen und singen: 
„Deine ungesungenen Lieder sind wir“. Und zuletzt verklagen ihn die geknickten Halme, seine ungetanen Werke zu sein. 
So stolpert unser Held vorwärts, panisch getrieben von den Gespenstern seiner Vergangenheit, der gelebten wie der ungelebten. Er stolpert geradewegs in die Arme eines Knopfgießers mit einer großen Schmelzkelle.
„Willkommen, mein Alter! Um – und einschmelzen werde ich Dich wie noch je Deinesgleichen; in den großen Brei kommst Du, zum Ausschuß, denn Ausschuß bist Du. Mit Dir hat es nichts auf sich.“
Doch G"tt Lob und G"tt sei Dank gibt es noch Liebe und Erbarmen in der Welt.
Und so singt das Liebste, was unserem Alten je widerfuhr, so singt seine Liebe ihn frei. Solveigs Lied erlöst den alten Peer Gynt und rettet ihn vor dem Tod der Schmelzkelle, auf ewig zunichte zu werden.

Es ist nun so ungefähr 150 Jahre her, daß der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen der Volkslegende des „Peer Gynt“ seine zugegebenermaßen reichlich phantastische dramatische Form gab. Inzwischen haben sich die Zeitläufte beschleunigt, und die Welt ist zum „globalen Dorf“ geschrumpft.
Die überkommenen Rhythmen unseres Lebens, daheim und unterwegs zu sein, Ruhe, nicht nur die sonntägliche, und Bewegung wechseln zu lassen, gehen verloren oder werden brutal zerstört durch die Imperative eines Wirtschaftssystems, das den Menschen abfordert, stets mobil zu sein und nur auf Abruf zu bleiben, zu verweilen. Die alte und schwierige Kunst, Nähe und Ferne auszubalancieren, wird verlernt, die Kunst, vom Nahen nicht verschlungen zu werden und andererseits in der Ferne nicht sich zu verlieren. Wir verlieren diese Balance, weil uns mehr und mehr die Zeit für Erfahrungen fehlt, es den Beziehungen und Bindungen, die wir zur Welt und zueinander eingehen, selbst abzulauschen, ob es an der Zeit ist, zu kommen, zu gehen oder zu bleiben.
Stattdessen gehorchen wir dem äußerlichen Diktat und Tempo, das uns alle und die Welt auf Trapp bringen will. Antiquiert, wer da noch sein Leben mit einer Leidenschaft verbinden will, statt es in wohlkalkulierte Abschnitte zu zerlegen, ein romantischer Idiot, wer da der Liebe seines Lebens anhängt, statt dem Partnertausch von „Lebensabschnittsgefährten“ sich zu ergeben. Dieses Wort, beiher gesagt, gehört wahrlich in das Wörterbuch des Unmenschen, ein Unwort ist es.
Peer Gynt also, dieses Musterbeispiel an Unfähigkeit, Bindungen eingehen zu können, an etwas oder jemandem anhaften zu können, er wird zum Regelfall und Durchschnittsmenschen. Doch immerhin: Peer Gynt noch sucht in seiner Zwiebelexistenz einen bleibenden Kern; er trauert und klagt, als er am Ende sein Leben verwehen sieht, und er ist menschlich darin, des Trostes und der Erlösung bedürftig zu sein.

Und was sagt uns G"tt am heutigen Sonntag? 
 
(
Joh 15, 1-8)  

1 Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater ist der Weingärtner. 
2 Eine jegliche Rebe an mir, die nicht Frucht bringt, wird er wegnehmen, und eine jegliche, die da Frucht bringt, wird er reinigen, daß sie mehr Frucht bringe. 
3 Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. 
4 Bleibet in mir und ich in euch. Gleichwie die Rebe kann keine Frucht bringen von sich selber, sie bleibe denn am Weinstock, so auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir.
5 Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. 
6 Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und müssen brennen. 
7 Wenn ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. 
8 Darin wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht bringet und werdet meine Jünger.

So tröstet und so ermahnt Jesus seine Freundinnen und Freunde, denn er weiß, sie müssen voneinander Abschied nehmen; ihre Zeit des engen Miteinanders geht unwiderruflich zuende. 
Aber nur Jesus weiß wirklich aus tiefster Seele, was sein Abschied bedeuten wird für die Seinen, die sich radikal von ihrer Vergangenheit getrennt, alles aufgegeben hatten und ihm nachgefolgt waren – um ihm nahe, um bei ihm daheim zu sein. Sie werden sich verwaist fühlen, wie Kinder, die Vater und Mutter zugleich verloren haben. Ihnen, die sie all ihr Vertrauen und all ihre Hoffnung auf Jesus warfen, wird der Boden entzogen werden; sie drohen abzustürzen. Und ohne einen Halt an ihm werden sie auch aneinander keinen Halt haben und sich keinen Halt geben können.
Daß Jesus gehen und sie verlassen muß, wird seine Freunde erneut in eine Krise stürzen, die noch bedrohlicher sein wird als die erste, da sie ihrem bisherigen Leben und seinen Bindungen fremd wurden. Deshalb ermahnt Jesus sie:
"
Bleibet an mir, zerstreut euch nicht, kapselt euch nicht ab.“ Und dann das alles entscheidende Trostwort: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Ich bleibe in euch, wie auch ihr in mir bleibt. Ihr werdet das können, denn ich werde euch nicht für immer und nicht ganz verlassen. Vielmehr werde ich zu euch kommen und bei euch bleiben. Verwandelt und anders als jetzt wird es sein, aber es wird bleiben.“
Jesus wird bleiben, weil noch vor all unserer Anhänglichkeit G"tt Verlangen nach Seinen Geschöpfen hat, weil noch vor all unserer Sehnsucht nach Bindung G"tt selbst mit uns im Bunde sein will. Deshalb wird Jesus bleiben, weil der Vater ein treuer BundesG"tt ist. 
> Und ist es nicht ganz wunderbar und sehr einfach, was uns verheißen ist? Treu und anhänglich zu sein und uns ganz durchlässig zu machen für die Lebenskraft G"ttes? So mühelos dann tragen wir gute Frucht und vermögen die rechten Werke, die die Welt erfreuen und G"ttes Namen verherrlichen. Wir müssen ja gar nichts hinzufügen und vermehren, nur weitergeben, was wir von G"tt empfangen, Er selbst aber wird es mehren, so ganz umsonst.
> Und ist doch so sonderbar und überaus schwer ! Schaffen wir es ja kaum, uns selbst treu zu sein, wieviel schwerer noch fällt uns die bedingungslose Treue zum Anderen, und sei es G"tt selbst. Wie stolz sind wir doch auf unser Ich und unsere Leistungen, daß wir die Demütigung nicht vertragen, alles einem Anderen zu verdanken. Und gehört es nicht zu den tiefsitzenden Überzeugungen unseres modernen Individualismus, daß unser Freiheitstrieb am Anderen seine garstige Schranke hat und unsere Selbstverwirklichung und freie Entfaltung vom Anderen begrenzt, ja behindert wird?  -   Und doch ist es so: 

> Wir können uns binden, weil G"tt uns mit Seiner Treue zuvorgekommen ist. 
> Wir bleiben, und seien wir auch schon ein Graukopf oder Weißbart, an den Wasserbächen des Paradieses gepflanzt und bringen gute Frucht, 
weil
uns G"ttes Weisung durch und durch geht. 
> Und wir sind ganz wir selbst und mit uns identisch, 
weil
wir uns an den Anderen verloren haben, so wie er sich an uns.

"Jesus bleibet meine Freude, meines Herzens Trost und Saft, Jesus wehret allem Leide, er ist meines Lebens Kraft, meiner Augen Lust und Sonne, meiner Seele Schatz und Wonne, darum laß ich Jesum nicht aus dem Herzen und Gesicht “ – so lautet der Text des Schlußchorales einer Bach-Kantate. Die Ihnen, liebe Gemeinde, wohl bekannte Bearbeitung des Chorals hörten wir zu Beginn des G"ttesdienstes; und gleich werden wir den Choral gemeinsam singen.
Dinu LipattiEin wahrhaft großer Musiker und Pianist nahm mit dem Spiel dieser Choralbearbeitung Abschied von seinem Publikum. Dinu Lipatti hieß der Künstler, vielleicht ist er den Älteren unter Ihnen noch ein Begriff. Bereits unheilbar krank, gibt Lipatti am 16. September 1950 in Besancon sein letztes Konzert, ein Zyklus von 14 Chopin-Walzern steht auf dem Programm. Während des Spiels des 13. Walzers verlassen Lipatti die Kräfte, er bricht sein Spiel ab und verläßt das Podium. Das Publikum verharrt in angespannter und ängstlicher Erwartung. Lipatti kehrt zurück, setzt sich an den Flügel und beginnt den Choralsatz zu spielen „Jesus bleibet meine Freude“, unendlich frei und gelöst fließt die Bewegung der Achtel dahin. Zu sagen, sein Spiel wäre überirdisch schön gewesen, trifft den Sachverhalt nicht. Die Ebenmäßigkeit des Klangs hat eine andere Quelle, nämlich die völlige Zurücknahme des eigenen Selbst oder besser noch: die völlige Hingabe seiner selbst an die Musik, als legte er seine Seele auf die Töne des Chorals, der wie noch jede Bach-Komposition „soli Deo gloria“, „allein G"tt zum Ruhm“ erklang.
Amen.

Und der Friede G"ttes, der höher ist als all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

G"ttesdienst-Liturgie



erstellt am
11.05.2003

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