Liebe
Gemeinde!Da sind zwei
einander fremd geworden, da haben sich zwei voneinander
entfernt, die doch so miteinander vertraut waren, die
sich solange schon kennen, daß länger es gar nicht sein
kann: von Anbeginn der Welt nämlich.
Die zwei: G"tt, der Herr und Schöpfer des Himmels
und der Erde, und Sein Volk Israel.
Nun aber: Mißverständnisse,Vorhaltungen, ja Vorwürfe
beherrschen den Raum, der zwischen beiden liegt und sie
trennt. Die Konturen des jeweils Anderen beginnen zu
verschwimmen, so muß man sich überhaupt erst einmal
wieder der Identität des Anderen vergewissern:
"Bist
du es nicht? Bist du es nicht?
"Ich bin´s, wer bist du? Wer bist du?"
Man ist auch außer Hörweite gekommen, so scheint es,
und deshalb muß Israel gewaltig schreien: "Wach auf!
Wach auf!
Bist du vielleicht ertaubt oder schläfst du, o Herr?"
Mit diesem zweimaligen, himmelschreienden Weckruf
einmal ist gewiß nicht genug hebt Israles Klage
an:
"Wo
bist du, Herr? Bist du überhaupt noch da? Hast
du uns ganz und gar vergessen? Bist du deiner noch inne?
Erinnere dich, gedenke deiner machtvollen Taten, finde zu
deiner alten Stärke zurück. War es im Anfang der Welt
oder war es damals in Ägypten, daß du die alte
Schlange, daß du Rahab und Leviathan zerhiebst? War es
der Drache der Urflut oder war es Pharao, der Würger,
der im Blut unserer Kinder wie in seinem Nil watete, daß
du ihn durchbohrtest?
Verzeih, o Herr, meine Augen sind schon etwas trüb
geworden, hier unten in der Grube unseres Exils. Ich sehe
nicht mehr klar in die Vergangenheit zurück; die
Ereignisse beginnen zu verschwimmen.
Auch ist es jetzt schon 40 Jahre her, daß unsere Feinde
uns aus Jerusalem und Israel hier nach Babel
verschleppten. 40 J. sind wir nun schon ohne Zeichen, du
seist uns noch treu und unser G"tt, da beginnt das
Vergangene zu verblassen.
Wohl hören wir hier unten in unseren Kerkern, Babel
wanke und eine neue Macht, das Perserreich, steige auf
aber wir können noch nicht erkennen, ob es uns
zugute geschieht, ob du in allem der Lenker bist.
Vielleicht ist die neue Macht noch ärger als die
bestehende und wir müßten uns noch nach Babel zurücksehnen.
Herr, wir haben Angst, die Angst überflutet uns, wir
ertrinken in ihr wie einst unsere Feinde, die Ägypter,
in den zurückschnellenden Wogen des Roten Meeres. Wie
die Chaosmacht der Urflut steigt die Verzweiflung in uns
auf, wir versinken, ihr Strudel zieht uns in die Tiefe
hinab. Hilf uns heraus, hilf uns aus unserer Angst und
aus unseren Fesseln.
Mach rasch, denn alle Gelenke tun uns weh, 40 J. sind wir
schon krummgeschlossen, exilverkrüppelt sind wir, und es
könnte sein, wir hätten den aufrechten Gang verlernt,
wenn du uns heimführen willst, nachhause, zum Zion und
nach Jerusalem. Beeil dich, Herr, lege die Gebetsriemen
ab und zieh deine Rüstung an; bewaffne deinen starken,
rechten Arm, befreie uns so wie du es einst tatest."
Und nun die
Antwort G"ttes auf diese Klage Seines Volkes; auch G"tt
kann nicht damit rechnen, gleich erkannt und gehört zu
werden, und auch für G"tt ist Sein Gegenüber, Sein
Volk, unkenntlich geworden:
"Höre Israel, hör doch, ich, ich bin´s"
auch G"tt muß sich zweimal zu Gehör
bringen
"Ich bin derselbe, der dich einst aus Ägypten
befreite und hinter dir das Meer schloß;
ich bin derselbe, der dich bald befreit und nachhause
bringt.
Ich bin´s, dein G"tt. Hast du meiner ganz vergessen, daß
die Furcht dich so zerfressen kann? Fürchte dich nicht,
denn wisse: deine Bedränger, verwelkende Blumen und
verdorrendes Gras sind sie, mein Hauch geht über sie
hinweg, und sie sind nicht mehr.
Wie ich mit ihnen verfahre, das muß dich nicht mehr bekümmern,
denn deine Hasser werden dir nichts mehr anhaben können.
Wenn sie in deine Verließe kommen, um dich zu holen, sei
es zum Verhör, sei es zur Exekution, so werden sie nur
leere Fesseln finden, denn ich habe dich schon
hinweggenommen und befreit.
Und was immer deine Bedränger Arges wider dich beschließen,
es wird keine Gewalt mehr über dich haben, nicht über
deinen Leib, und nicht über deine Seele. Denn ich halte
dich in meinen Armen, der Schatten meiner Hand schirmt
dich, ich gebe dir Brot zu essen und füttere dich mit
meiner Tora, so daß du keinen Mangel mehr leidest, nicht
an deinem Leib, nicht an deiner Seele.
Und so wirst du bei mir in Sicherheit sein, bis ich
dereinst einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffe.
Und für alle Zeit wird gelten: du bist mein Volk!"
1943,
das Ghetto in Warschau: Der Aufstand gegen die
Nazis ist fast niedergeschlagen. Jossel Rakover ist einer der
letzten noch lebenden Kämpfer. Munition hat er nicht
mehr, dafür aber drei Flaschen Benzin. 1 Flasche ist für
ihn, die anderen 2 für seine Feinde. Wenn sie das Haus
stürmen, in vielleicht 1-2 Stunden, wird er seine
Peiniger mit in den Tod nehmen.
Jossel Rakover hatte eine Frau und sechs Kinder, alle
sind umgekommen. Seine Frau mit dem siebenmonatigen
Kleinsten auf dem Arm kam um, als deutsche Flugzeuge
Tausende von Flüchtlingen auf der Straße von Grodno
nach Warschau beschossen.
Am gleichen Tag verschwanden spurlos und für immer auch
David und Jehuda, 4 und 6 J. alt. Die anderen drei Kinder
fanden innerhalb eines Jahres im Ghetto den Tod. Rachele,
10 J. alt, wollte Brotreste aus den städtischen Abfallkübeln
jenseits der Ghettomauern holen die Nazis hetzten
das Kind, und als es erschöpft zu Boden stürzte,
durchbohrten sie seinen Kopf.
Jakob starb am Tag seiner Bar-Mitzwah an Tuberkulose, und
Chawa, das letzte Kind, wurde mit 15 J. ermordet, im
Rahmen einer sog. "Kinderaktion". Sie begann
mit dem Sonnenaufgang des jüd. Neujahrfestes und endete
mit dem Sonnenuntergang. An jenem Neujahrstag haben
Hunderte Familien bis zum Abend ihre Kinder verloren.
Ein gutes halbes Jahr liegt das zurück.
In 1-2
Stunden wird auch Jossel Rakover tot sein, er weiß es. 9
Tage haben sie gekämpft, er und seine 11 Kameraden, von
diesem Zimmer aus, in dem Jossel Rakover nun neben seinen
11 toten Freunden auf den Tod wartet. Er schaut ihnen ins
Antlitz und ihm will scheinen, ein spöttischer Zug
spiele um ihre Lippen, als wollten sie sagen: "Hab´
noch etwas Geduld, du Narr, bald wird auch dir alles
klarwerden."
Jossel
Rakover wendet sich an G"tt und spricht:
"Noch lebe ich. Und da will ich vor meinem Tod zu
meinem Gott noch einmal wie ein Lebender reden.
Ich glaube an den Gott Israels, auch wenn er alles getan
hat, daß ich nicht an ihn glauben soll... Ich beuge mein
Haupt vor Seiner Größe, aber werde die Rute nicht küssen,
mit der Er mich schlägt. Ich habe Ihn lieb. Doch Seine Tora
habe ich lieber. Selbst wenn ich mich in Ihm getäuscht hätte,
Seine Tora würde ich hüten...Erlaube mir Gott, vor
meinem Tod, daß ich Dich zur Rede stelle...
Du sagst, daß wir gesündigt haben? Aber natürlich! Und
dafür werden wir bestraft? Auch das kann ich verstehen.
Ich will aber, daß Du mir sagst, ob es irgendeine Sünde
auf der Welt gibt, die eine solche Strafe verdient, wie
wir sie bekommen haben...Nun sagst Du vielleicht, daß es
jetzt keine Frage von Sünde und Strafe ist, sondern daß
Du Dein Gesicht verhüllst und die Menschen ihren Trieben
überläßt. Dann will ich Dich aber fragen, Herr, und
diese Frage brennt in mir wie ein verzehrendes Feuer: Was
noch muß geschehen, damit Du Dein Gesicht vor der Welt
wieder enthüllen wirst?
Und noch etwas will ich Dir sagen: Du sollst den Strick
nicht zu sehr anspannen! Denn er könnte Gott verhüte!
noch reißen. Die Versuchung, in die Du uns geführt
hast, ist so schwer, daß Du denjenigen Deines Volkes
vergeben mußt, die sich von Dir abgekehrt haben...Vergib
auch denjenigen, die gleichgültig gegen Dich geworden
sind. Du hast sie so sehr geprüft, daß sie nicht mehr
glauben, daß Du ihr Vater bist, daß sie überhaupt
einen Vater haben.
Ich sage Dir das alles so deutlich, weil ich an Dich
glaube, weil ich jetzt weiß, daß Du mein Gott bist.
Denn wenn Du nicht mein Gott bist wessen Gott bist
Du dann? Der Gott der Mörder?
Ich höre nun auf, zu Dir zu sprechen, der Tod kann nicht
mehr warten. Jetzt geht die Sonne unter, und Gott sei
Dank muß ich sie nie mehr wiedersehen.
Ich sterbe ruhig, friedlich, als Dein Gläubiger, nicht
als Dein Schuldner...
Ich werde immer an Dich glauben.
Ich werde Dich immer liebhaben, immer Dir selbst
zum Trotz!"
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"Ich
glojb in der Sunn, afile wenn sie scheint nit;
ich glojb in der Liebe, afile wenn fihl ihr nit,
ich glojb in Gott, afile wenn er schweigt."
Ich glaub an die Sonne, auch wenn
sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch
wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott,
auch wenn er schweigt. |
Aufschrift
auf der Wand eines Kellers in Köln a.R., wo sich
einige Juden während des ganzen Krieges versteckt gehalten
haben.
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Niemand außer den Toten weiß, ob und wie
das verhüllte Antlitz G"ttes sich enthüllte.
Die Toten bezeugen uns nichts. Und das Zeugnis der
Überlebenden?
Die
Grauen der Vernichtungslager haben Menschen an G"tt
festhalten und an G"tt irre werden lassen. Und niemand,
wirklich niemand, darf deshalb versuchen, aus Auschwitz
ein Argument sich zu formen: für oder gegen G"tt.
Kein Beweis, kein Argument ist den Lagern zu entnehmen.
Im Gegenteil:
Auschwitz absorbiert alle unsere Deutungsversuche und
verwandelt sie in sinnloses Gerede wie ein
schwarzes Loch im Kosmos.
Und so
bliebe uns nichts denn unsere Schuld und die Frage nach
der Schuld? und worin bestünde sie, die Schuld?
Doch darin, daß auch durch unser Tun wie Unterlassen
Israel zu einem guten Teil an seinem G"tt irre geworden
ist.
"Wenn
ihr mich bezeugt, so bin ich der Ewige. Seid ihr nicht
meine Zeugen, so bin ich auch nicht," sagen die jüd.
Weisen (Pes. R.Kahana 102b).
So hat
Auschwitz nicht nur die Glaubenskraft Seines Volkes
geschwächt, es hat G"tt selbst eines Teils Seiner Zeugen
beraubt: seit Auschwitz ist G"tt und ist auch nicht.
Und so
kommt von Auschwitz kein Argument und kein Beweis her,
wohl aber ein Gebot an uns:
# Weiche der G"ttesfrage
nicht aus, sondern halte sie aus, halte aus, daß G"tt
fraglich geworden ist.
# Laß dich auf
die Hoffnung verpflichten und wehre der Resignation .
# Suche die
Zeichen, sie mögen noch so unscheinbar sein, daß G"tt
Seinen Verheißungen treu geblieben ist, und weise sie
auf.
Tue das
alles nicht um deinetwillen, nicht für dein Seelenheil,
sondern tue es für die, deren Kraft zu glauben und zu
hoffen gebrochen wurde. Das alles - wir könnten es das
11. Gebot nennen. Amen.
Und der
Friede G"ttes, der höher ist als all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.
Erweckung
und Ausfahrt (Jesaja 51, 9-16)
9
Wache, wache,
kleide dich in Sieg,
du SEIN Arm!
Wache, wie in den Tagen von einst,
denen der Vorzeitgeschlechter!
warst nicht dus,
der das Ungetüm zerhieb,
den Drachen erstach?
10
warst nicht dus,
der das Meer austrocknete,
die Wasser des großen Wirbels?
der durch die Tiefen des Meers den Weg legte,
daß hindurchschritten Ausgelöste?
11
So mögen heimkehren die von IHM Abgegoltnen,
kommen nach Zion mit Jubel,
Weltzeit-Freude um ihr Haupt:
sie erlangten Wonne und Freude,
Gram und Seufzen müssen entfliehn.
12 -
Ich selber, ich selber
bins, der euch tröstet:
wer bist du, daß du dich fürchtetest
vor einem Menschen, der sterben wird,
vorm Adamssohn, dahingegeben als Gras!
13
du vergaßest IHN, der dich machte,
der die Himmel spannt und die Erde gründet,
erschrocken warst du stets, all den Tag,
vor der Grimmglut des Bedrängers,
dieweil er zielte, zu verderben, -
und wo ist nun die Grimmglut des Bedrängers?!
14
Eilends wird der Krummgeschloßne entkettet,
nicht muß er hinsterben zur Grube,
nicht ermangelt er mehr seines Brots.
15
ICH selber bins, dein Gott,
der das Meer emporwinkt,
daß seine Wellen tosen,
dessen Name ist ER der Umscharte:
16
ich setzte meine Reden in deinen Mund,
und habe dich zugehüllt
mit dem Schatten meiner Hand:
einen Himmel zu pflanzen,
eine Erde zu gründen
und zu Zion zu sprechen:
Du bist mein Volk.
Ü: Buber - Rosenzweig
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