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Die Tora mehr lieben als G-tt?

Predigt über Jes 51, 9-16

Brigitte Gensch

(4. So n. Epiphanias [2001], einTag nach dem
Gedenktag zur Befreiung der Lager)

marc_tochilkin

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt!
Der Predigttext f.d. heutigen So steht im Buch des Propheten
Jesaja, Kap.51,9-16.
Amen.

Liebe Gemeinde!

Da sind zwei einander fremd geworden, da haben sich zwei voneinander entfernt, die doch so miteinander vertraut waren, die sich solange schon kennen, daß länger es gar nicht sein kann: von Anbeginn der Welt nämlich.
Die zwei: G"tt, der Herr und Schöpfer des Himmels und der Erde, und Sein Volk Israel.
Nun aber: Mißverständnisse,Vorhaltungen, ja Vorwürfe beherrschen den Raum, der zwischen beiden liegt und sie trennt. Die Konturen des jeweils Anderen beginnen zu verschwimmen, so muß man sich überhaupt erst einmal wieder der Identität des Anderen vergewissern
:

"Bist du es nicht? Bist du es nicht?
"Ich bin´s, wer bist du? Wer bist du?" Man ist auch außer Hörweite gekommen, so scheint es, und deshalb muß Israel gewaltig schreien: "Wach auf! Wach auf!
Bist du vielleicht ertaubt oder schläfst du, o Herr?" Mit diesem zweimaligen, himmelschreienden Weckruf – einmal ist gewiß nicht genug – hebt Israles Klage an:

"Wo bist du, Herr? Bist du überhaupt noch da? Hast du uns ganz und gar vergessen? Bist du deiner noch inne? Erinnere dich, gedenke deiner machtvollen Taten, finde zu deiner alten Stärke zurück. War es im Anfang der Welt oder war es damals in Ägypten, daß du die alte Schlange, daß du Rahab und Leviathan zerhiebst? War es der Drache der Urflut oder war es Pharao, der Würger, der im Blut unserer Kinder wie in seinem Nil watete, daß du ihn durchbohrtest?
Verzeih, o Herr, meine Augen sind schon etwas trüb geworden, hier unten in der Grube unseres Exils. Ich sehe nicht mehr klar in die Vergangenheit zurück; die Ereignisse beginnen zu verschwimmen.
Auch ist es jetzt schon 40 Jahre her, daß unsere Feinde uns aus Jerusalem und Israel hier nach Babel verschleppten. 40 J. sind wir nun schon ohne Zeichen, du seist uns noch treu und unser G"tt, da beginnt das Vergangene zu verblassen.
Wohl hören wir hier unten in unseren Kerkern, Babel wanke und eine neue Macht, das Perserreich, steige auf – aber wir können noch nicht erkennen, ob es uns zugute geschieht, ob du in allem der Lenker bist. Vielleicht ist die neue Macht noch ärger als die bestehende und wir müßten uns noch nach Babel zurücksehnen.
Herr, wir haben Angst, die Angst überflutet uns, wir ertrinken in ihr wie einst unsere Feinde, die Ägypter, in den zurückschnellenden Wogen des Roten Meeres. Wie die Chaosmacht der Urflut steigt die Verzweiflung in uns auf, wir versinken, ihr Strudel zieht uns in die Tiefe hinab. Hilf uns heraus, hilf uns aus unserer Angst und aus unseren Fesseln.
Mach rasch, denn alle Gelenke tun uns weh, 40 J. sind wir schon krummgeschlossen, exilverkrüppelt sind wir, und es könnte sein, wir hätten den aufrechten Gang verlernt, wenn du uns heimführen willst, nachhause, zum Zion und nach Jerusalem. Beeil dich, Herr, lege die Gebetsriemen ab und zieh deine Rüstung an; bewaffne deinen starken, rechten Arm, befreie uns – so wie du es einst tatest."

Und nun die Antwort G"ttes auf diese Klage Seines Volkes; auch G"tt kann nicht damit rechnen, gleich erkannt und gehört zu werden, und auch für G"tt ist Sein Gegenüber, Sein Volk, unkenntlich geworden:
"Höre Israel, hör doch, ich, ich bin´s" – auch G"tt muß sich zweimal zu Gehör bringen –
"Ich bin derselbe, der dich einst aus Ägypten befreite und hinter dir das Meer schloß;
ich bin derselbe, der dich bald befreit und nachhause bringt.
Ich bin´s, dein G"tt. Hast du meiner ganz vergessen, daß die Furcht dich so zerfressen kann? Fürchte dich nicht, denn wisse: deine Bedränger, verwelkende Blumen und verdorrendes Gras sind sie, mein Hauch geht über sie hinweg, und sie sind nicht mehr.
Wie ich mit ihnen verfahre, das muß dich nicht mehr bekümmern, denn deine Hasser werden dir nichts mehr anhaben können. Wenn sie in deine Verließe kommen, um dich zu holen, sei es zum Verhör, sei es zur Exekution, so werden sie nur leere Fesseln finden, denn ich habe dich schon hinweggenommen und befreit.
Und was immer deine Bedränger Arges wider dich beschließen, es wird keine Gewalt mehr über dich haben, nicht über deinen Leib, und nicht über deine Seele. Denn ich halte dich in meinen Armen, der Schatten meiner Hand schirmt dich, ich gebe dir Brot zu essen und füttere dich mit meiner Tora, so daß du keinen Mangel mehr leidest, nicht an deinem Leib, nicht an deiner Seele.
Und so wirst du bei mir in Sicherheit sein, bis ich dereinst einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffe. Und für alle Zeit wird gelten: du bist mein Volk!"

1943, das Ghetto in Warschau: Der Aufstand gegen die Nazis ist fast niedergeschlagen. Jossel Rakover ist einer der letzten noch lebenden Kämpfer. Munition hat er nicht mehr, dafür aber drei Flaschen Benzin. 1 Flasche ist für ihn, die anderen 2 für seine Feinde. Wenn sie das Haus stürmen, in vielleicht 1-2 Stunden, wird er seine Peiniger mit in den Tod nehmen.
Jossel Rakover hatte eine Frau und sechs Kinder, alle sind umgekommen. Seine Frau mit dem siebenmonatigen Kleinsten auf dem Arm kam um, als deutsche Flugzeuge Tausende von Flüchtlingen auf der Straße von Grodno nach Warschau beschossen.
Am gleichen Tag verschwanden spurlos und für immer auch David und Jehuda, 4 und 6 J. alt. Die anderen drei Kinder fanden innerhalb eines Jahres im Ghetto den Tod. Rachele, 10 J. alt, wollte Brotreste aus den städtischen Abfallkübeln jenseits der Ghettomauern holen – die Nazis hetzten das Kind, und als es erschöpft zu Boden stürzte, durchbohrten sie seinen Kopf.
Jakob starb am Tag seiner Bar-Mitzwah an Tuberkulose, und Chawa, das letzte Kind, wurde mit 15 J. ermordet, im Rahmen einer sog. "Kinderaktion". Sie begann mit dem Sonnenaufgang des jüd. Neujahrfestes und endete mit dem Sonnenuntergang. An jenem Neujahrstag haben Hunderte Familien bis zum Abend ihre Kinder verloren.
Ein gutes halbes Jahr liegt das zurück.

In 1-2 Stunden wird auch Jossel Rakover tot sein, er weiß es. 9 Tage haben sie gekämpft, er und seine 11 Kameraden, von diesem Zimmer aus, in dem Jossel Rakover nun neben seinen 11 toten Freunden auf den Tod wartet. Er schaut ihnen ins Antlitz und ihm will scheinen, ein spöttischer Zug spiele um ihre Lippen, als wollten sie sagen: "Hab´ noch etwas Geduld, du Narr, bald wird auch dir alles klarwerden."

Jossel Rakover wendet sich an G"tt und spricht:
"Noch lebe ich. Und da will ich vor meinem Tod zu meinem Gott noch einmal wie ein Lebender reden.
Ich glaube an den Gott Israels, auch wenn er alles getan hat, daß ich nicht an ihn glauben soll... Ich beuge mein Haupt vor Seiner Größe, aber werde die Rute nicht küssen, mit der Er mich schlägt. Ich habe Ihn lieb. Doch Seine Tora habe ich lieber. Selbst wenn ich mich in Ihm getäuscht hätte, Seine Tora würde ich hüten...Erlaube mir Gott, vor meinem Tod, daß ich Dich zur Rede stelle...
Du sagst, daß wir gesündigt haben? Aber natürlich! Und dafür werden wir bestraft? Auch das kann ich verstehen. Ich will aber, daß Du mir sagst, ob es irgendeine Sünde auf der Welt gibt, die eine solche Strafe verdient, wie wir sie bekommen haben...Nun sagst Du vielleicht, daß es jetzt keine Frage von Sünde und Strafe ist, sondern daß Du Dein Gesicht verhüllst und die Menschen ihren Trieben überläßt. Dann will ich Dich aber fragen, Herr, und diese Frage brennt in mir wie ein verzehrendes Feuer: Was noch muß geschehen, damit Du Dein Gesicht vor der Welt wieder enthüllen wirst?
Und noch etwas will ich Dir sagen: Du sollst den Strick nicht zu sehr anspannen! Denn er könnte – Gott verhüte! – noch reißen. Die Versuchung, in die Du uns geführt hast, ist so schwer, daß Du denjenigen Deines Volkes vergeben mußt, die sich von Dir abgekehrt haben...Vergib auch denjenigen, die gleichgültig gegen Dich geworden sind. Du hast sie so sehr geprüft, daß sie nicht mehr glauben, daß Du ihr Vater bist, daß sie überhaupt einen Vater haben.
Ich sage Dir das alles so deutlich, weil ich an Dich glaube, weil ich jetzt weiß, daß Du mein Gott bist. Denn wenn Du nicht mein Gott bist – wessen Gott bist Du dann? Der Gott der Mörder?
Ich höre nun auf, zu Dir zu sprechen, der Tod kann nicht mehr warten. Jetzt geht die Sonne unter, und Gott sei Dank muß ich sie nie mehr wiedersehen.
Ich sterbe ruhig, friedlich, als Dein Gläubiger, nicht als Dein Schuldner...
Ich werde immer an Dich glauben.
Ich werde Dich immer liebhaben, immer – Dir selbst zum Trotz!"

"Ich glojb in der Sunn, afile wenn sie scheint nit;
ich glojb in der Liebe, afile wenn fihl ihr nit,
ich glojb in Gott, afile wenn er schweigt."

Ich glaub an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle. Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.

Aufschrift auf der Wand eines Kellers in Köln a.R., wo sich einige Juden während des ganzen Krieges versteckt gehalten haben.

Niemand außer den Toten weiß, ob und wie das verhüllte Antlitz G"ttes sich enthüllte.
Die Toten bezeugen uns – nichts. Und das Zeugnis der Überlebenden?

Die Grauen der Vernichtungslager haben Menschen an G"tt festhalten und an G"tt irre werden lassen. Und niemand, wirklich niemand, darf deshalb versuchen, aus Auschwitz ein Argument sich zu formen: für oder gegen G"tt.
Kein Beweis, kein Argument ist den Lagern zu entnehmen. Im Gegenteil:
Auschwitz absorbiert alle unsere Deutungsversuche und verwandelt sie in sinnloses Gerede – wie ein schwarzes Loch im Kosmos.

Und so bliebe uns nichts denn unsere Schuld und die Frage nach der Schuld? und worin bestünde sie, die Schuld?
Doch darin, daß auch durch unser Tun wie Unterlassen Israel zu einem guten Teil an seinem G"tt irre geworden ist.

"Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich der Ewige. Seid ihr nicht meine Zeugen, so bin ich auch nicht," sagen die jüd. Weisen (Pes. R.Kahana 102b).

So hat Auschwitz nicht nur die Glaubenskraft Seines Volkes geschwächt, es hat G"tt selbst eines Teils Seiner Zeugen beraubt: seit Auschwitz ist G"tt und ist auch nicht.

Und so kommt von Auschwitz kein Argument und kein Beweis her, wohl aber ein Gebot an uns:

# Weiche der G"ttesfrage nicht aus, sondern halte sie aus, halte aus, daß G"tt fraglich geworden ist.
# Laß dich auf die Hoffnung verpflichten und wehre der Resignation .
# Suche die Zeichen, sie mögen noch so unscheinbar sein, daß G"tt Seinen Verheißungen treu geblieben ist, und weise sie auf.

Tue das alles nicht um deinetwillen, nicht für dein Seelenheil, sondern tue es für die, deren Kraft zu glauben und zu hoffen gebrochen wurde. Das alles - wir könnten es das 11. Gebot nennen. Amen.

Und der Friede G"ttes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Amen.

Erweckung und Ausfahrt (Jesaja 51, 9-16)

9 Wache, wache,
kleide dich in Sieg,
du SEIN Arm!
Wache, wie in den Tagen von einst,
denen der Vorzeitgeschlechter!
warst nicht dus,
der das Ungetüm zerhieb,
den Drachen erstach?

10 warst nicht dus,
der das Meer austrocknete,
die Wasser des großen Wirbels?
der durch die Tiefen des Meers den Weg legte,
daß hindurchschritten Ausgelöste?

11 So mögen heimkehren die von IHM Abgegoltnen,
kommen nach Zion mit Jubel,
Weltzeit-Freude um ihr Haupt:
sie erlangten Wonne und Freude,
Gram und Seufzen müssen entfliehn.

12 - Ich selber, ich selber
bins, der euch tröstet:
wer bist du, daß du dich fürchtetest
vor einem Menschen, der sterben wird,
vorm Adamssohn, dahingegeben als Gras!

13 du vergaßest IHN, der dich machte,
der die Himmel spannt und die Erde gründet,
erschrocken warst du stets, all den Tag,
vor der Grimmglut des Bedrängers,
dieweil er zielte, zu verderben, -
und wo ist nun die Grimmglut des Bedrängers?!

14 Eilends wird der Krummgeschloßne entkettet,
nicht muß er hinsterben zur Grube,
nicht ermangelt er mehr seines Brots.

15 ICH selber bins, dein Gott,
der das Meer emporwinkt,
daß seine Wellen tosen,
dessen Name ist ER der Umscharte:

16 ich setzte meine Reden in deinen Mund,
und habe dich zugehüllt
mit dem Schatten meiner Hand:
einen Himmel zu pflanzen,
eine Erde zu gründen
und zu Zion zu sprechen:
Du bist mein Volk.

Ü: Buber - Rosenzweig


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