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G"ttesdienst anläßlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus und der Befreiung von Auschwitz (27.01.2002)

"Geknicktes Rohr wird er nicht zerbrechen ..."
Predigt zu Jesaja 42, vv 1-9

von
Brigitte Gensch


Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da
kommt. Amen

Liebe Gemeinde!
Ein Herr und ein Knecht; nicht irgendein Herr und nicht irgendein Knecht, sondern der HERR, der ewige G"tt, Schöpfer des Himmels und der Erde, und Sein Knecht, Sein erwähltes Volk Israel. Und so spricht der HERR:

„Seht her, ihr Völker, dies ist mein Knecht Jakob, an den sich meine Seele bindet. Kenntlich und anrufbar machte ich mich, seit ich meinen Namen an den meines Knechtes band:
Ich, der Ewige, der G"tt Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Mehr noch:
ob ich bin oder ob ich nicht bin, das wird vom Zeugnis meines Knechtes abhängen. Wenn er mich bezeugt, so bin ich der ewige G"tt. Ist er aber nicht mein Zeuge, so bin ich auch nicht. So stütze ich mich auf ihn.
Mein Wort und meine Weisung, die heilige Tora, gebe ich meinem Knecht und den Geist, sie recht und neu und immer wieder neu auszulegen. Nicht zu seinem intellektuellen Vergnügen gebe ich sie ihm, nicht daß er sie allein für sich genieße, vielmehr soll er meine Weisung zu euch, zu den Völkern bringen.
Die Mission meines Knechtes wird nicht laut und marktschreierisch sein, sie wird sich der Gewalt und des Schwertes enthalten.
Er wird sich vom Glanz des Erfolges -so wie ihn die Welt verehrt - nicht blenden lassen. Der Faszination der Macht wird er nicht erliegen, denn mit der Gnade der Machtlosigkeit habe ich Jakob, meinen Knecht, begnadet. Weltpolitisch wirkungslos, unaufdringlich und fast unscheinbar wird er die Wege der Tora gehen, meine Gebote halten, an den Überlieferungen festhalten; Generation für Generation - eine schmale Spur der Weltgeschichte, stets gefährdet, verweht und ausgelöscht zu werden.
Und deshalb wird sich mein Bote auch derer annehmen, deren Leben gefährdet ist, unter die Räder der Macht zu geraten. Solidarisch hält er sich zu allen, deren Leben beschädigt und geknickt und dem Verlöschen nahe ist. Denn dies Leben ist wie das meines Knechtes. So wird der Bote der Botschaft gleich sein, und beide werden bezeugen, wer ich bin: der ewige G"tt, der das Recht liebt, Gebundener Fesseln löst und aus den Kerkern herausführt, der befreit und Blinder Augen auftut.

Und damit euch Völkern, die ihr im Finstem wandelt, ein Licht, mein Licht aufgehe, deshalb zerstreue ich mein Volk Israel unter euch Völker. Denn nicht nur vom Hörensagen und aus Büchern sollt ihr mich kennenlernen, sondern noch einmal anders will ich euch nahe sein - im lebendigen und leibhaften Zeugnis meines Knechtes Jakob unter euch, in eurer Mitte.
Ihr werdet an meinem Knecht Anstoß nehmen, auch das weiß und sehe ich. Aber wie ihr ihm auch zusetzen werdet, das Eine wisset: zerbrochen wird das Rohr nicht, nicht verlöschen der Docht. Denn ich selbst halte an meinem Knecht fest, ich halte ihn an meiner Hand, ihn vor Vemichtungswut und Mörderhaß zu retten und unter meinen Fittichen zu bergen. Und am Ende aller Tage, wenn aller Haß sich ausgetobt hat und ihr aus eurem Haß weg- zu mir umgekehrt seid, dann werdet ihr euch an die Rockzipfel Israels hängen und hierher zum Zion
und nach Jerusalem gelaufen kommen - um meine Weisung zu lernen und um den Krieg zu verlernen."
So spricht der HERR.

Und was sagt der Knecht?
"'
Gelobt seist du, Ewiger, unser G"tt, König der Welt, der uns aus allen Völkern erwählt und uns Seine Tora gegeben hat'.
Ach Herr, du weißt doch selbst am besten, wie oft dir dein Knecht, wie oft wir dir für deine Erwählung gedankt haben, dafür, daß du uns zum Dienst bestellt hast, von dir und deinen Weisungen zu erzählen.
Und wir möchten nicht nachlassen, dich so in unseren täglichen Gebeten zu loben.
Aber bleischwer liegt deine Hand auf uns, untragbar schwer lastet das Joch der Erwählung auf unseren Schultern. Du stützt dich auf uns, wir aber haben Angst, die Last zerbreche unser Rückgrat. Du sagst, dein Knecht wird nicht schreien und laut seine Stimme in den Gassen hören lassen. Das stimmt.
Es schreien die anderen, aber nicht für uns, sondern uns und dir zum Hohn: 'Deutschland erwache, Juda verrecke'. Und für uns schreien die nicht, die doch auch das Joch der Erwählung zu tragen glauben; die ganze Christenheit und ihre Kirchen.
Und die wenigen, die da meinen, nur der dürfe gregorianisch singen, der auch seinen Mund für Israel auftue, die allzu wenigen macht man mundtot.
'Um deinetwillen werden wir hingewürgt Tag für Tag und sind geachtet wie Schlachtschafe' (PS 44, 23).
Seit altersher beten und rufen wir so zu dir. Und du erhörtest uns und halfst uns aus unserer Bedrängnis und gegen unsere Bedränger.
Jetzt aber sind wir schon so lange, zu lange ohne ein Zeichen, du seist uns auch diesmal treu und unser G"tt, der uns nicht verlöschen läßt. Deine Rettungstaten - unklar verschwommen in einer fernen Vergangenheit; das Brot der Erinnerung, von dem wir essen, es geht zur Neige -Herr, wir verhungern!
Du sprichst zu den Völkern und du weißt um ihre Mißgunst, sagst du. Aber kann es sein, daß du vielleicht doch zu gut für deine Schöpfung bist? Daß deine
Allgüte für eine solche Vemichtungswut nicht hinreicht, wie sie jetzt sich Bahn gebrochen hat?
Oder wenn deine Allgüte nicht versagt, dann vielleicht dein
Allwissen, und wenn nicht dein Wissen, dann aber doch deine Allmacht?

Verzeih, Ewiger, wir kennen uns mit dir nicht mehr aus, unser Geist wird an dir irre.
Ja, du hast uns den Geist gegeben. Aber wisse: schnell verliert der Menschengeist seine Spannkraft über das bloße Hier und Jetzt hinaus, wenn man dem Menschen an den Leib geht. Als sie uns den ersten Schlag versetzten und als sie uns die Lagernummem auf den linken Unterarm tätowierten, da waren wir nur noch Fleisch. Nur Knechten und Tieren, die zur Schlachtung bestimmt sind, drückt man ein solch unauslöschliches Brandmal auf- so werden wir es also tragen, dieses Erwählungszeichen von Auschwitz.
Ich höre nun auf, mit dir zu sprechen, denn sie kommen, uns zu holen. Sie kommen, um uns noch einmal zum Licht der Völker zu machen. Wenn sie unsere toten Leiber in ihre Öfen, in die Krematorien werfen, wird der Nachthimmel hier im Osten der Welt feuerrot-hell erglühen. Dann wird es wieder nachtdunkel werden, und wenn die letzte Glut verloschen ist, wird man unsere und aller anderen Opfer Asche in den nahegelegen See werfen - ein Teich nur aus Menschenasche: sie sei dir allezeit vor Augen.
Bleischwer liegt deine Hand auf uns. Aber schwerer noch drückt uns deine Abwesenheit nieder.
Unser Vater, unser König - an wen, wenn nicht an dich, soll sich unser Flehen richten? Und um was können wir dich noch bitten?
Nicht darum bitte ich dich, mit dem Leben davonzukommen, zu perfekt und zu reibungslos ist die Tötungsmaschienerie. Sondern darum bitte ich dich, du mögest deinen Kindern dein Antlitz wieder zuwenden, und sei es im allerletzten Augenblick ihres Verlöschens."

Liebe Gemeinde,
für heute habe ich Ihnen eine
> Foto-Zusammenstellung (nicht mehr online) < mitgebracht. Das erste obere Photo wurde anläßlich der Befreiung des Lagers Buchenwald gemacht, es zeigt befreite Überlebende des Lagers. Darunter sehen Sie zwei nahezu identische Skulpturgruppen, die der amerikanisch-jüdische Künstler George Segal 1982 anfertigte. Einmal für das Jewish Museum in New York, für einen geschlossenen Raum, das andere Mal für einen öffentlichen Park in San Francisco.
Der Besucher, der durch den Park geht, wird plötzlich und unvermutet mit der Shoa, dem Holocaust konfrontiert.
Ein Mann steht am Zaun. Übrigens keine Kunstfigur, sondern einem wirklich Überlebenden aus Buchenwald nachgebildet, verkörpert die Gestalt die Hoffnung, zu überleben und befreit zu werden. Hinter dem Mann liegen insgesamt 10 Figuren in einer bestimmten symbolischen Anordnung auf dem Boden: nackte, tote Leiber, die - zöge man die Außenlinie an den Leibern entlang - die Form eines Davidstems bilden. Einzelne Figuren liegen in einer kreuzartigen Anordnung und gemahnen so daran, daß Jesus Jude ist.
Die Zehnzahl der Toten weckt aber auch noch einen anderen Gedanken. Zehn Menschen sind nach jüdischer Überlieferung notwendig, um einen G"ttesdienst zu feiern, 10 sind vonnöten, um G"tt im G"ttesdienst zu bezeugen. So verliert die künstlerische Aussage, absichtlich oder unabsichtlich, ihre Eindeutigkeit und gerät in die Schwebe.
Das Zeugnis des Überlebens übermag nicht das Zeugnis des Todes, und umgekehrt gilt dasselbe: nicht wiegt das Zeugnis des Todes schwerer als das des Überlebens.
Und was bezeugen die Toten? Nichts als den Tod, schlimm genug.
Denn niemand außer den Toten weiß, ob und wie das verhüllte Antlitz G"ttes sich enthüllte.
Und das Zeugnis der Überlebenden?
Die Grauen der Vernichtungslager haben Menschen an G"tt festhalten und an G"tt irre werden lassen. Und niemand, wirklich niemand, darf deshalb versuchen, aus Auschwitz ein Argument sich zu formen: für oder gegen G"tt.
Kein Beweis, kein Argument ist den Lagern zu entnehmen. Im Gegenteil: Auschwitz absorbiert alle unsere Deutungsversuche und verwandelt sie in sinnloses Gerede - wie ein schwarzes Loch im Kosmos.
Und so bliebe uns nichts denn unsere Schuld und die Frage nach der Schuld?
und worin bestünde sie, die Schuld?
Doch darin, daß auch durch unser Tun wie Unterlassen Israel zu einem guten Teil an seinem G"tt irre geworden ist.
„Wenn ihr mich bezeugt, so bin ich der Ewige. Seid ihr nicht meine Zeugen, so
bin ich auch nicht," sagen die jüdischen Weisen (Pes. R.Kahana 102b).

So hat Auschwitz nicht nur die Glaubenskraft Seines Volkes geschwächt, es hat G"tt selbst eines Teils Seiner Zeugen beraubt: seit Auschwitz ist G"tt und ist auch nicht.
Und so kommt von Auschwitz kein Argument und kein Beweis her, wohl aber ein Gebot an uns:

> Weiche der G"ttesfrage nicht aus, sondern halte sie aus, halte aus, daß G"tt fraglich geworden ist.
> Laß dich auf die Hoffnung verpflichten und wehre der Resignation .
> Suche die Zeichen, sie mögen noch so unscheinbar sein, daß G"tt Seinen Verheißungen treu geblieben ist, und weise sie auf.

Tue das alles nicht um deinetwillen, nicht für dein Seelenheil, sondern tue es für die, deren Kraft zu glauben und zu hoffen gebrochen wurde. Das alles - zumindest - sind wir den Opfern schuldig.
Amen
.

Und der Friede G"ttes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere
Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.


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