Predigten Liturgie theologische Texte Links

Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden davon die Zähne stumpf.
oder
"Ein Sohn soll nicht die Schuld des Vaters, 
noch ein
Vater die Schuld des Sohnes mittragen."

Predigt über Ezechiel 18
3. Sonntag nach Trinitatis

Brigitte Gensch

Michelangelo Ezechiel

Gnade sei mit euch und Friede von G"tt, unserem Vater, und 
von unserem Herrn Jesus Christus!


Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im 18. Kap. des Propheten Ezechiel (Hesekiel)

Liebe Gemeinde!
Da hocken sie nun, die Alten in der babylonischen Gefangenschaft.  Altgeworden im Exil, entwurzelt, ohne eine Perspektive auf Besserung, ohne Hoffnung und deshalb resigniert und leicht zynisch. Sprüche werden geklopft, dumme und fahrlässige Sprüche; einer davon lautet so:
„Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden davon die Zähne stumpf.“
„Mit uns ist nichts mehr los“, jammern die Alten, „wir werden hier im Exil sterben. Und die Jungen? Die werden es auch nicht wenden, so alt und greisenhaft wie die jetzt schon ausschauen – ohne Biß, schlapp und ohne Geschmacksnerven für eine bessere Zukunft.“
Weiter geht die Klage: „Wir haben das verschuldet, wir haben von den Trauben gegessen vor der Zeit,vor der Reife, sauer waren sie da noch. Lange ist das her, wir waren selbst noch unreif. Aber alte Schuld rächt sich, nichts bleibt ungesühnt. Da kann man nichts machen. Was wir verschuldeten, unsere Kinder müssen die Folgen erleiden – so ist das eben. Schicksal!“
Wie gesagt, ein fahrlässiger Spruch, denn statt individueller Verantwortung will er nur die kollektive Schuld kennen. Was die Elterngeneration tut oder unterläßt, zwanghaft und wie ein Verhängnis setzt sich das Vergangene in der nächsten Generation fort. Eine Generation wird so zur Geisel der anderen Generation.

Die Jungen schreien auf: „Reicht es nicht, daß Ihr Alten uns in diese hoffnungslose Lage hier in Babel gebracht habt? Viele von uns Jüngeren wurden als Kleinkinder hierher verschleppt, viele kennen gar nichts anderes als das Exil, denn sie wurden hier geboren. Warum beschwert Ihr unser Los noch zusätzlich mit solchen Sprüchen, es wäre ganz Recht und Gerechtigkeit, daß wir so ohne Hoffnung seien. Warum beugt Ihr uns unter den Zwang, wir müßten Eure Schuld abtragen? Wie ein Alp hockt Ihr uns im Nacken und auf unseren Schultern, Ihr Alten mit Eurem Zynismus, mit Eurer Schicksalsergebenheit.“

„Die Väter haben saure Trauben gegessen, davon werden den Kindern die Zähne stumpf.“
Nicht nur ein dummer Spruch, nicht wahr, sondern auch einer, der zutrifft, einer, den unsere Erfahrung vielfach belegt. Denn wie die Eltern uns erzogen, was sie uns mitgaben, vorlebten, was sie uns „vererbten“, all das prägt unsere Art zu leben, zu urteilen, zu empfinden. Wenn es gut geht und gut endet, dann haben sie uns zu freien Menschenkindern erzogen, die wie man auf kölsch so sagt, „flügge“ geworden sind. „Flügge“ und freifliegend, den eigenen guten Lebensweg zu finden, ohne die Erfahrungen und Mitgaben der Eltern verwerfen und verachten zu müssen. 
Aber wie oft geht es eben nicht gut und endet schlecht: da spannen Eltern einen Rahmen auf, in den sie den Lebens- und vermeintlichen Glücksweg ihrer Kinder schon eingezeichnet haben, bevor sie überhaupt wissen, ob das alles zu den Kindern paßt und ob ihre Kinder das alles so wollen. Mit den besten Absichten, durchaus, sollen es dann die Kinder „einmal besser haben“. So wird geackert und gerackert, gespart und versagt, moralisch hochgerüstet, und wehe, die vorab ausgerechnete Dankbarkeit bleibt aus, weil die Kinder es gerade nicht auf die Weise „besser haben wollten“, wie die Eltern es sich ausdachten. Wie oft wollen Eltern in ihren Kindern das wiederholen, was als vergangene und manchmal auch entgangene Möglichkeit an ihrem alternden Selbstbewußtsein nagt: „Ach, ich wollte doch immer Arzt werden,damals, direkt nach dem Krieg, doch die Verhältnisse, sie waren eben nicht so, es hat nicht sollen sein – aber der Jüngste, der wird einmal Arzt, wenn wir uns nur anstrengen und krummlegen.“

Die Kinder: mißbraucht als eine Projektionsfläche eigener Wünsche und unerfüllter Sehnsüchte, ein Mißbrauch, der oft unbewußt sich vollzieht. Doch auch im Verhältnis zwischen den Generationen gilt das Gebot: „Du sollst dir kein Bildnis machen.“ So wie uns G"tt untersagt hat, Ihn in die Verfügbarkeit eines Bildes zu zwängen, so ist es auch unter uns Menschen verboten, einander ins Bild zu zwängen, das wir uns füreinander so gerne machen wollen. G"tt verbietet uns das Bild und Abbild Seiner selbst, weil er so uns nicht nahe sein will. Nahe ist Er uns, weil Er uns als Seine Ebenbilder erschafft und leben läßt - daran haben wir reichlich Göttliches an uns, mehr als genug. Und weil wir als Seine Ebenbilder leben, deshalb ist es uns verwehrt, den Anderen nach unserem Bildnis formen zu wollen, deshalb ist es verboten, ihn als unser Abbild uns angleichen zu wollen.
Der Andere: eine Kopie meiner selbst...

Liebe Gemeinde, 
wir sind kurz davor, das zu tun. Denn die Fortschritte der Genetik und Gentechnologie haben die Menschheit ermächtigt, die eigene Evolution, die eigene Gattungsgeschichte planmäßig beherrschen, steuern und manipulieren zu können. Jetzt geht es nicht mehr nur darum, daß Eltern ihre Kinder in ihrem Verhalten prägen, so daß diese doch immer noch die Möglichkeit haben, sich mit diesen Prägungen auseinanderzusetzen, jetzt geht es ums Ganze, um die ganze Person, jetzt geht es um den Menschen in seiner Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit. Bisher noch gelingt das Klonen, die identische Reproduktion nur im tierischen Bereich und auch dort erst schlecht als recht, doch es ist eine Frage der Zeit, bis die Machbarkeit auf das Gebiet des Menschlichen überspringt.
Und alles, was wir können, das haben wir in unserer bisherigen Geschichte auchgemacht....

Wahrlich, alle Seelen sind mein, spricht unser Prophet Ezechiel leidenschaftlich, von G"tt her. Und weil dem G"tt der Bibel, unserem G"tt, alle Seelen gehören, deshalb gehören wir einander gerade nicht, deshalb sind wir gegeneinder frei. Und das müssen wir Christinnen und Christen wissen: wenn wir den DNS-Schnipplern und Gen-Panschern nicht in den Arm fallen und sie weiter gewähren lassen, dann steht nicht nur unser stolzes Ego, unsere Individualität auf dem Spiel, dann ist auch nicht nur die Schöpfung G"ttes bedroht, sondern dann ist G"tt selbst bedroht: Seine Ebenbildlichkeit und damit Sein Wille, für sich und für uns Seine Freiheit zu wollen.
Natürlich konnte Ezechiel von diesen modernen Möglichkeiten und Abgründen noch nichts wissen, aber von einem menschlichen Abgrund wußte er eben doch sehr gut: von unserem tiefeingefleischten Trieb, einander zu versklaven und Zwängen zu unterwerfen. Und so löst unser G"ttesredner Ezechiel die Fesseln, mit denen die Generationen einander in Haft nehmen:
jeder und jede ist nur für eigenes Vergehen verantwortlich, G"tt macht niemanden für die Taten oder Unterlassungen eines anderen Menschen haftbar.

An der Auseinanderfolge dreier Generationen verdeutlicht Ezechiel sein Evangelium, seine gute Botschaft der Freiheit:
Ein Vater lebt und handelt recht und gerecht, da ist kein Makel und Versäumnis.
Und also wird er leben, gut leben. Und obgleich er einen Sohn zeugt, der ganz und gar auf die schiefe Bahn gerät, ein Mörder und Halsabschneider, so wird dem gerechten Vater das Böse des Sohnes nicht schuldhaft angerechnet. Der Sohn jedoch kann sich nicht auf die Verdienste des Vaters bei G"tt berufen, das Guttun des Vaters wird ihm nicht zum Guten angerechnet, der Sohn hat seine Schuld und die Folgen seiner Vergehen zu tragen. Und zeugt nun dieser wiederum eínen Sohn, der so gerecht und gut handelt wie sein Großvater und seinem Vater im Bösen nicht nachfolgt, so wird auch er leben, gut leben. Die Untaten des Vaters werden ihm nicht angelastet werden.

So wird jeder individuell kenntlich vor G"tt, je einzeln und immer genau „jetzt“.
Denn so wie G"tt durch Seinen Propheten Ezechiel die einzelnen Menschen von dem Verhängnis losspricht, für andere Schuld zu haften, so befreit Er auch den Einzelnen vom Alpdruck der eigenen schuldhaften Vergangenheit. Weil G"tt uns Menschen die Möglichkeit einer schuldfreien Zukunft zuspielt, deshalb können wir umkehren, uns abkehren von dem, was G"tt an uns zuwider war und gerade noch zuwider ist. Und wir können uns der eigenen schuldhaften Vergangenheit zukehren und sie als unsere Schuld ansehen und annehmen. Ja und dann endlich ist unsere Zukunft etwas anderes als die ewige Wiederholung vergangener Schuld, dann kommt die Zeit, unsere Lebenszeit wirklich von vorne, neu und unverbraucht, auf uns zu.

Und was G"tt unserer Umkehr alles zutraut: nichts weniger als einen neuen Geist und ein neues Herz, die wir uns mit unserer Reue und Umkehr selbst schaffen.
Immer genau „jetzt“ ist das möglich; immer genau „jetzt“ entscheidet sich, wie wir mit G"tt und wie Er mit uns dran ist. Vergangene Verdienste zählen da nicht, und vergeblich wäre es, sie gegen das gerade getane Unrecht aufrechnen zu wollen. Gegen diese miese und schiefe Buchhaltung unserer Werke, mit der wir G"tt wohl ein Schnippchen schlagen wollen, gegen diese unsere Rechenkünste wettert Ezechiel mit der gleichen Vehemenz, mit der er sich auch gegen den Schuldzwang verwahrt. Denn beides, unser Bildertrieb wie unsere Waagschalen-Logik, treffen G"ttes Freiheit ins Mark.
Und wer es sich im Sicherheitsnetz vergangener Verdienste bequem macht und wer mit entspanntem Gewissen auf die Vorsätze eines guten Morgen vertraut, der traut wohl doch nicht so ganz auf G"tt, der gibt sich wohl doch nicht so ganz und gar dem Urteil G"ttes anheim. Wer aber vor G"tt nichts weiter vorzubringen hat als sein bloßes Jetzt, der vertraut sich G"tt in seiner Blöße an.
Und allen, die so auf G"tt trauen, ist das Leben, das gute Leben versprochen.
Es ist gut, denn die Stolpersteine der Vergangenheit, an die unser Fuß stets und immer wieder sich stieß, sind beiseite geräumt, so daß wir uns wieder frei bewegen können. Die Übertretungen der Vergangenheit haben ihre Bleischwere und ihren fesselnden Zwang verloren, vergeben sind sie, aber nicht vergessen und ins Nichts verschwunden.

Unsere aufrichtige Reue und tätige Umkehr vermag viel, sehr viel. Die Rabbiner gehen soweit zu lehren, daß G"tt die Vergehen in Verdienste verwandelt, wenn jemand aufrichtig bereut und umkehrt. G"tt kann das: Er verwandelt Böses in Gutes, aber allein G"tt kann das. 
Wir vermögen etwas anderes, wenn uns vergeben ist: befreit wie wir sind, können wir uns der Last der Vergangenheit stellen und sie als unsere gemeinsame Vergangenheit annehmen, auch wenn wir, einzeln betrachtet, gar nicht schuldig geworden sind. Wir können das, denn G"tt gehören alle Seelen und unser aller Leben. Und deshalb sind wir frei, frei füreinander.
Amen. So sei es.

Und der Friede G"ttes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Ezechiel 18:

(1-5): Und es erging an mich das Wort des Herrn: Was soll es, daß ihr im Lande Israels diesen Spruch im Munde führt:
„Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern werden davon die Zähne stumpf“?
So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr, ihr sollt fortan diesen Spruch in Israel nicht mehr im Munde führen.
Wahrlich, alle Seelen sind mein! Die Seele des Vaters wie die Seele des Sohnes – mein sind sie! Die Seele, die sündigt, die muß sterben.
Wenn aber einer gerecht ist und Recht und Gerechtigkeit übt,
(9-10) Wenn einer in meinen Satzungen wandelt und meine Gesetze hält, indem er treulich darnach tut – der ist gerecht, der soll am Leben bleiben, spricht Gott der Herr.
Wenn er aber einen gewalttätigen Sohn erzeugt, der Blut vergießt und Frevel übt,
(13-14) der auf Zins leiht und Zuschlag nimmt, soll der am Leben bleiben?
- Er wird nicht am Leben bleiben! Er hat all diese Greuel verübt, er muß sterben! Sein Blut komme über ihn! Und siehe: wenn auch er einen Sohn erzeugt, und der sieht all die Sünden, die sein Vater begangen hat, und er fürchtet sich und tut nicht desgleichen;
(17. 19) er hält seine Hand von Unrecht fern, er nimmt weder Zins noch Zuschlag, er hält meine Gesetze und wandelt in meinen Satzungen – der wird nicht sterben um der Schuld seines Vaters willen, er wird am Leben bleiben.
Und nun sagt ihr: „Warum trägt nicht der Sohn die Schuld des Vaters mit?“
wo doch der Sohn Recht und Gerechtigkeit geübt und alle meine Satzungen gehalten und darnach getan hat! Er soll am Leben bleiben!
(20 –24) Die Seele, die sündigt, die soll sterben! Ein Sohn soll nicht die Schuld des Vaters, noch ein Vater die Schuld des Sohnes mittragen. Nur dem Gerechten kommt seine Gerechtigkeit zu, und nur über den Gottlosen kommt seine Gottlosigkeit.
Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von all den Sünden, die er begangen hat, und alle meine Satzungen hält und Recht und Gerechtigkeit übt, so soll er am Leben bleiben, er soll nicht sterben. Aller Missetaten, die er begangen hat, wird ihm nicht mehr gedacht; um der Gerechtigkeit willen, die er geübt hat, soll er am Leben bleiben.
Habe ich etwa Wohlgefallen am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr, und nicht vielmehr daran, daß er sich von seinem Wandel bekehre und am Leben bleibe? Und wenn sich der Gerechte von seiner Gerechtigkeit abwendet und Unrecht tut, Greuel aller Art, wie sie der Gottlose verübt, so wird all der gerechten Taten, die er getan hat, nicht mehr gedacht; um der Treulosigkeit willen, die er verübt, und um der Sünde willen, die er begangen hat, um ihretwillen muß er sterben.
(30 –32) Darum will ich einen jeden von euch nach seinem Wandel richten, Haus Israel! spricht Gott der Herr. Kehret um und wendet euch ab von all euren Missetaten, damit sie euch nicht Anlaß zur Bestrafung werden! Werfet von euch all die Missetaten, die ihr gegen mich begangen habt, und schaffet euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Warum wollt ihr denn sterben, Haus Israel? Habe ich doch kein Wohlgefallen am Tode dessen, der sterben muß, spricht Gott der Herr.
So kehret denn um, auf daß ihr lebet!



Besucher seit dem
16.06.2002

Predigten Liturgie theologische Texte Links


top