Gnade sei mit euch und Friede, von G"tt,
unserem Vater, und dem Herrn
Jesus Christus!
Der Predigttext für den heutigen
Sonntag steht in der Apokalypse des Johannes,
im 7.Kap., Vers 9-17.
Liebe
Gemeinde!
Eine
merkwürdige, himmlische Versammlung haben wir da zu
Gast, heute am 2.Weihnachtstag.
Von Weihnachten kommen wir her. Unser Blick, zuvor noch
adventlich auf die Himmel gerichtet, wurde von G"tt aufs
Nahe, ja Niedrige und Geringe umgebogen: dort in den
Stall zu Betlehem. Nun aber reißt die Vision des Sehers
Johannes unseren Blick erneut nach oben. Die Himmel öffnen
sich und lassen ihr Innerstes sehen: um den Thron des
ewigen G"ttes sind die Erlösten aus der ganzen
Menschheit versammelt; mit Lobgesängen dienen sie IHM,
ohne Unterlaß.
Doch nicht nur nach oben geht der visionäre Blick,
sondern weiter, nach vorne, vorwärts hin auf das Ende
der Geschichte selbst, jedenfalls soweit sie eine
Geschichte ist, in der Menschen leiden: Hunger und Durst,
die Gluthitze der sengenden Sonne werden nicht mehr sein,
überhaupt wird dann nichts mehr "zum Heulen"
sein. Ganz Konkretes und Irdisches gibt uns die Vision zu
hoffen, auf daß der Himmel nicht an seiner eigenen
Jenseitigkeit dumm werde, sich wie eine Buchrolle
zusammenrolle und davonmache. So aber halten ihn die
alten prophetischen Hoffnungen Israels an der Erde fest,
auf daß beide, Himmel und Erde, erneuert werden:
"Wie im Himmel so auf Erden".
Wo um
Himmels willen sind wir, wo stehen wir?
Um die Zeitspanne von Weihnachten an bis Neujahr zu
bezeichnen, gebrauchen wir manchmal die etwas rätselhafte
Wendung "zwischen den Jahren". Und wir
meinen es wohl so, daß sich da zwei Zeitordnungen
verschränken: schon stehen wir im Neuanfang, den G"tt
mit uns gemacht hat, noch aber auch im alten Jahr der
Welt.
Unleugbar weckt der nahebevorstehende Jahreswechsel Befürchtungen
und Erwartungen, die unter- schiedlicher kaum sein können.
Vom Begriff "Millenium" abgesehen, fällt zur
Zeit kein Wort häufiger denn das Wort "Apokalypse".
Ein Gespenst geht um in der Welt: das Gespenst der
Endzeit-Angst.
Krisen- und Katastrophenszenarien umlagern uns. Gegen das
Gespenst ziehen einige mit den Waffen der Vernunft zu
Felde: "Entspannt Euch", rufen sie uns zu,
"nur ein paar Nullen kommen da auf Euch zu; alles
Zufall und bloß der Rechenfehler der Kalendermacher."
Mir aber will scheinen, daß diese tapferen Verteidiger
der Vernunft nur ihre eigene Angst beschwichtigen wollen.
Andere wiederum erblicken im Datum 2000 das Fanal einer
Katastrophe mit kosmischen Ausmaßen. Der drohende
Weltensturz fasziniert und erschreckt sie gleichermaßen.
Manche Christen gar, die sich an der Bilderwelt der
biblischen Apokalypse berauscht haben, nehmen das
Christusjahr 2000 etwas zu wörtlich: sie reisen nach
Jerusalem, um auf dem Tempelberg kollektiven Selbstmord
zu begehen. Damit und mit anderen Wahnsinnstaten wollen
sie die Wiederkunft Christi beschleunigen, ja
herbeizwingen. Seit Monaten bereits haben die israelische
Polizei und Psychiarie gut zu tun.
Doch jenseits dieser Extreme spüren wohl die meisten von
uns: wir leben in Zeiten des Umbruchs, der ökologischen
und ethischen Herausforderungen.
Vor
exakt 100 Jahren, also Ende 1899, notierte R.M.Rilke in
sein "Stundenbuch": "Man fühlt den Glanz
von einer neuen Seite, auf der noch alles werden kann."
Verflogen ist solcher Zukunftsoptimismus am Ende dieses
Jahrhunderts.
Zwei Beispiele möchte ich Ihnen, liebe Gemeinde, geben.
> Ca. 5 Milliarden
ha unseres Planeten sind landwirtschaftlich nicht
nutzbar; gut 3 Milliarden davon aufgrund menschlicher
Eingriffe. Bis vor einigen Jahren war das Verhältnis
zwischen selbstverschuldeter Wüste und
landwirtschaftlicher Nutzfläche ausgewogen. Nun aber
verschiebt es sich mehr und mehr zugunsten der Ödnis:
die Wüsten wachsen, und die Anzahl derer steigt, die von
Hunger und Durst, von Sonne und Glut betroffen sind.
> Und
das zweite Beispiel: erstmals ermächtigen Genetik und
Gentechnologie den Menschen dazu, seine eigene Evolution
in den Griff zu nehmen und planmäßig zu steuern. Die nächsten
Jahre und Jahrzehnte werden entscheiden, ob unsere
Weisheit und Moral hinreichen, diese Selbstermächtigung
zu bestehen. Nicht mehr und nicht weniger als die
Ebenbildlichkeit G"ttes stehen dabei auf dem Spiel.
Gut wäre es, wir nähmen unsere Angst und Besorgnis
ernst. Sie könnten uns dann aufschließen, worum wir uns
ängstigen und worauf wir hoffen, immer noch. Stattdessen
aber flieht unsere Gesellschaft in die Vergötzung des
Hier und Jetzt.
"Lasset uns essen und trinken! denn morgen sind wir
tot!" - so lästerten bereits die übermütig-verzweifelten
Zeitgenosses des Propheten Jesaja.
"Nur keine Panik auf der Titanic" -
beschwichtigen die heutigen. Mag der Lxusliner auch schon
kollidiert sein und sich zur Seite neigen, die
Bordkapelle spielt weiter. Ihr Gedudel ist zum obszönen
Symbol einer Spaßgesellschaft geworden, dich sich nicht
einmal vom eigenen Untergang die gute Laune verderben
lassen will.
Übrigens: für die Extravaganten und nicht ganz
Unbetuchten hat sich die Tourismusbranche einen
besonderen Milleniumskick ausgedacht. Dank schneller Jets
und Zeitverschiebung kann der Augenblick des
Jahrtausendwechsels gleich zweimal erlebt und gefeiert
werden. Zuerst in Sibirien mit Kosakentanz, Kaviar und
Wodka, anschließend in Fairbanks, Alaska. Verschieden
zwar die Orte, gleich aber die Zeit. Was für ein Thrill:
einmal so auf der Grenze von Zeit und Ewigkeit zu tänzeln.
Denn nicht wahr: dem bösen Vergehen der Zeit ein
Schnippchen schlagen, den einmaligen Augenblick
wiederholbar machen - reicht das nicht an die Ewigkeit?
"Amen! Das Lob und der Ruhm und die Weisheit und die
Danksagung und die Ehre und die Macht und die Stärke gebührt
unrem Gott in alle Ewigkeit. Amen."
So preisen die Engel um den himmlischen Thron ohne
Unterlaß. Vor der Ewigkeit G"ttes zergeht alle Vergötzung
des Augenblicks.
Liebe Gemeinde,
ich lade Sie nun ein, die Vision des Sehers etwas genauer
zu besehen; versuchen wir, uns in ihrer verrätselten
Bilderwelt zurechtzufinden.
> Mitten vor dem
Thron, in nächster G"ttesnähe, steht das Lamm, also
Christus.
Keine der so zahlreichen Bilddarstellungen der
Offenbarung versäumte es, dem Lamm das Kreuz beizugeben.
Denn nicht der triumphierende Christus steht dort
inmitten, sondern das Opfer: zu Unrecht verklagt,
verurteilt und von der Welt an den Kreuzgalgen gehängt.
So bleibt dem Himmel dort in seiner innersten Mitte die
irdische Leidensgeschichte eingezeichnet.
>
Dem Lamm zunächst dienen die vier Wesen
und die 24 Ältesten - wie ein erster konzentrischer Ring
umkreisen sie den Thron G"ttes.
Wer sind diese? Löwe, Stier, Mensch und Adler: so
gestaltig sind die 4 Wesen; vielleicht Tierkreissymbole,
vielleicht besonders herausgehobene Engel - die Gelehrten
streiten sich da. Unsere Kirchenväter allerdings
deuteten sie als die vier Evangelisten.
Und die 24 Ältesten? Eine Art himmlisches Presbyterium:
bekrönt auf 24 Thronen sitzend, dienen sie G"tt als
SEINE Priester und bringen die Gebete SEINER Frommen dar.
So spiegeln sie den irdischen Tempeldienst in Jerusalem
wider, auch dort verteilt sich der G"ttesdienst auf 24
Dienstabteilungen.
>
Ein zweiter Kreis umgibt den Thron, die
Schar aller Engel. Wie die Glieder einer Kette reihen
sich 7 Preisungen zu einem Hymnus: Lob, Ruhm, Weisheit,
Danksagung, Ehre, Macht und Stärke.
Die symbolischen Verästelungen der Zahl 7 sind gerade in
der Johannesapokalypse kaum zu überschauen. Aus der
Vielzahl möchte ich uns nur eine Bedeutung herausgreifen:
so wie in den Schriften der jüdischen Apokalyptiker der
siebenarmige Leuchter, die Menora, das Widerstandssymbol
gegen die Weltmacht Rom war, so verschlüsselt auch
Johannes den christlichen Widerstandswillen der bedrängten
Gemeinden in der Zahl 7. Der siebengliedrige Engelsgesang
enthüllt sich als Kampfansage an Rom.
"Ein
Buch mit sieben Siegeln": Sie kennen gewiß diese
Wendung, auch so ein Bildwort aus der Offenbarungsschrift.
Ein versiegeltes Buch kann man nicht lesen, es sei denn,
man bricht das Siegel auf. Und nur das Lamm, das Opfer,
ist würdig, das versiegelte Buch zu öffnen; das Buch,
darin die ganze Weltgeschichte aufgeschrieben ist. Das
Lamm enthüllt den inneren Sinn der Geschichte. Was es
mit ihr auf sich hat, welche Mächte sie regieren, das
erfuhr es am eigenen Leib. Anders gesagt: Geschichte wird
kenntlich aus der Opferperspektive - so möchte ich das
Wort "Apokalypse" verstehen.
Und deshalb ist es auch folgerichtig, daß das Lamm den
fast endlosen Zug der Opfer anführt und einer großen
Wiedergutmachung entgegenführt. Noch einen dritten Kreis
nämlich gibt uns die Vision zu sehen.
"Darnach schaute ich auf, und siehe da, eine große
Menge, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und
Stämmen und Völkern und Sprachen, die vor dem Thron und
dem Lamm stand, angetan mit weißen Kleidern, und Palmen
in ihren Händen. Und sie riefen mit lauter Stimme:
`Heil unsrem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem
Lamm!´"
Woher
kommen all diese Menschen? "Aus der großen Trübsal",
antwortet einer der Ältesten unserem Seher. Aus
Verfolgung, Unterdrückung und Martyrium kommen sie her.
Ihre Kleider, und gewiß nicht nur ihre Kleider, zeigen
die Spuren des Erlittenen. Nun widerfährt ihnen erstmals
Recht, all denen, die da in der alten Welt unter die Räder
kamen. Unser Seher faßt diese Umkehrung in das paradoxe
Bild, daß die befleckten Gewänder im Blut des Lammes
weiß und rein gemacht werden. Warum im Blut des Lammes?
Weil der Tod des vor G"tt Gerechten das Unrecht der Welt
offenbart. Doch nicht nur rückwärts, bezogen auf
vergangenes Unrecht, geschieht Wiedergutmachung, auch
vorwärts, zukünftig: wer jetzt hungert, wird gesättigt
werden, wer Durst leidet, wird an die Wasserquellen
geleitet werden, Sonne und Gluthitze werden nicht mehr
treffen; da wird überhaupt gar nichts mehr "zum
Heulen" sein.
Und die
Täter? Ihrer wartet der zweite und ewige Tod, so heißt
es fast am Schluß der Johannesoffenbarung. Im grausigen
Bild werden sie von jeglicher Hoffnung abgeschnitten.
Und das Gros derer, die weder eindeutig Täter noch Opfer
sind, die ein wenig Lauen und oft Gleichgültigen, aber
auch die, die nicht die Kraft zum Widerstand, zum klaren
Nein aufbringen, oder die, denen - G"tt sei Dank -
Verfolgung und Bedrängnis erspart geblieben sind; also
die sehr Vielen unter uns?
Für uns hat die Apokalypse des Johannes
keine Bilder, hat sie deshalb aber auch keine Hoffnungen
für uns?
"Um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung
gegeben". Dieser Satz stammt von dem jüdischen
Philosophen Walter Benjamin. Auch er ein Opfer. Als er für
sich nichts mehr hoffen konnte, wählte er den Freitod;
1940 dort in Port-Bou, an der Grenze zu Spanien auf der
Flucht vor den Nazischergen.
Erlösungshoffnung, die sich nur am eigenen Dasein entzündet,
ist ohne jedes Recht. Entzündet sich unsere Hoffnung
aber am Leid der anderen, so haben auch wir teil an dem,
worauf wir für jene hoffen.
"Um der Hoffnungslosen ist uns die Hoffnung gegeben",
dann auch uns.
Amen.
Der
Friede G"ttes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre
eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
2.Weihnachtstag 1999