Gnade sei mit euch und Friede von
dem, der da ist und
der da war und der da kommt.
Liebe Gemeinde!
Mose wird bald
sterben. Aber bevor er zu seinen Vätern versammelt wird
und G"tt selbst ihn im Lande Moab begräbt, zuvor läßt
G"tt Mose vom Berge Nebo das ist östlich des
Toten Meeres vom Berge Nebo herab das ganze verheißene
Land schauen. Ein letzter sehnsuchtsvoller Blick also über
das Land, in das Israel ziehen wird, das zu betreten aber
Mose von G"tt verwehrt ist.
Mose nimmt
Abschied von seinem Volk. Er tut es mit einer Trost- und
Mahnrede, mit einem Lied und mit einem Segen, der alle Stämme
Israels segnet.
Israel wird nun ohne Mose auskommen müssen. Wie oft
hatte er es angetrieben, geführt, auch angeherrscht, vor
allem aber: wie oft hatte er gut gesprochen für Israel
vor G"tt, wie oft war er Fürsprecher für Israel vor G"tt
gewesen.
Nun aber muß Mose Abschied nehmen. Nicht mehr er,
sondern die Tora, die G"ttliche Weisung wird nunmehr und
hinfort Israel leiten.
Und was läßt G"tt Mose über die Tora, das G"ttliche
Gesetz, sagen?
"Nicht im Himmel ist es und nicht jenseits der Meere
und also unerreichbar für dich, vielmehr: nahe ist dir
das Wort, in deinem Munde und in deinem Herzen, daß du
es tun kannst."
Nah und
erschwinglich sind die Weisungen und Gebote G"ttes,
leicht ist das Joch, das Er dir auferlegt, gut und
gangbar sind die Wege, die G"tt dir zu gehen weist. Zum
Leben führen sie, nicht zum Tod. Ja, mehr und wichtiger
noch: zum guten Leben führen sie. Deine Kinder und
Kindeskinder wirst du sehen, dein Acker wird reiche
Frucht tragen, sicher und unbedroht wirst du im verheißenen
Land wohnen.
Liebe
Gemeinde,
ich lade Sie ein, mit mir eine kleine Reise zu
unternehmen ich möchte Ihnen nämlich zeigen, wie
nah die Tora, das G"ttliche Wort, Menschen kommen kann.
Wir müssen nicht so sehr weit reisen, weder in der Zeit
noch im Raum. In der Zeit: reisen wir gute 15 Std. zurück
in den gestrigen Samstag Abend. Denn nach biblischer
Zeitrechnung beginnt jeder neue Tag am Abend mit dem
Einbruch der Dunkelheit. Und im Raum: reisen wir ins gar
nicht so ferne Berlin 4 Std. mit dem ICE, und wir
wären da. Mit Ihrer Phantasie aber: nur wenige Sekunden,
und wir sind dort.
Heute
feiert Israel das Fest der Gesetzesfreude, Simchat Tora
heißt es: das Fest der Freude an der Tora.
Die Abende
in Berlin sind schon empfindlich kühl, und so tut es
gut, von der wohligen Wärme des Raumes umfangen zu
werden. Wir betreten den großen Betsaal der Synagoge in
der Pestalozzie-Str. Was für ein Gedränge, was für ein
Glanz! Viele Kinder, Mädchen wie Jungen, laufen durch
die Reihen der Bänke, spielen Fangen um die einige
Stufen erhöhte Bima, d.i. das Lesepult vorne an der
Stirnseite des Raumes, etwa da, wo in christl. Kirchen
der Altar steht.
Die Wangen
der Kinder glühen, von der Wärme des Raumes und vom
Spiel erhitzt, gewiß aber auch vor Erwartung und
Vorfreude. Ihre Augen strahlen, in ihnen spiegeln sich
die vielen Lichter, die Lichter der Menorot, der beiden 7armigen
Leuchter, die rechts und links von der Bima stehen.
Überhaupt: noch heller und strahlender als sonst
erscheint der Raum. Liegt es nur am weißbedeckten
Lesepult und am weißen, golddurchwirkten Vorhang vor dem
Tora-Schrein?
Viele
Frauen, die sonst gerne unten bei den Männern sitzen,
gehen heute nach oben auf die umlaufende Empore; schwere
Tüten, gefüllt mit Süßigkeiten, halten sie in der
Hand. Allmählich findet so jeder und jede einen Platz,
zum Sitzen oder zum Stehen Ruhe kehrt deswegen
doch noch nicht ein.
"Scheket, Kinder" (d.h. Ruhe), ruft der Chasan,
der Vorbeter in die Runde, "wir wollen anfangen".
Von oben, von der Empore herab ertönt der erste Gesang:
"Ma tovu ohaleicha, Jaakov" "wie
schön sind deine Zelte, Jakob, wie schön deine
Wohnungen, Israel."
Ja
wirklich heute stimmt das ganz besonders.
Es ist
ruhiger geworden, der G"ttesdienst hat begonnen und nimmt
den gewohnten Verlauf. Schon sind die täglich zu
sprechenden Gebete vorüber, teils gesprochen, teils
gesungen, und allmählich nähert sich der G"ttesdienst
seinem Höhepunkt, dem Ereignis, auf das alle warten. Der
Vorhang des Tora-Schreins wird beiseite gezogen, der
Schrein geöffnet, und alle Schriftrollen werden
entnommen. Heute, am Tag der Torafreude, bleibt keine der
Rollen im Schrank, heute sind alle gleich wichtig, heute
sind alle Königinnen, auch die kleineren und kleinen
Rollen. Der Rabbiner und der Vorbeter geben sie weiter an
die wartenden Männer, bis jede Rolle ihren Träger
gefunden hat. Der Zug setzt sich in Bewegung, langsam
schaukelnd, die Stufen der Bima herab.
An den
wartenden und jetzt stehenden Menschen zieht der Zug
vorbei, den ganzen Raum längs bis zum Ausgang; von dort
zurückkommend, nun auf der anderen Längsseite, zurück
bis zur Bima, dem Lesetisch. Schaukelnd, wiegend und
tanzend bewegen sich die Männer, schwer und sanft liegen
die Königinnen, die geliebten, die Schriftrollen, in
ihren Armen. Silberhell klingen die Schellenglöckchen
auf den Kronen, mit denen jede Rolle bekrönt ist.
Jede und
jeder der spalierstehenden Menschen versucht, mit dem
Gebetbuch eine der Rollen zu berühren, entweder den
aufliegenden, kostbaren Silberschild oder den Samt- und
Brokatmantel, in den jede Rolle eingehüllt ist.
Unendlich stolz und glücklich schauen die Männer uns
an, halten die doch das Kostbarste im Arm, das Israel
gegeben wurde.
Während sie so vorbeiziehen, begleitet die Gemeinde sie
mit Gesang und Klatschen der eine oder die andere
beginnt auch zu tanzen. Vor und hinter dem Zug her ziehen
die Kinder; Süßigkeiten werden ihnen zugesteckt oder
von der Empore herab geworfen.
"Wie
süß ist deine Rede meinem Gaumen, süßer als Honig
meinem Munde", singt der Sänger des 119. Psalms (wir
haben ihn zu Beginn unseres G"ttesdienstes gesprochen).
Und dem Propheten Ezechiel gibt G"tt gar eine ganze Rolle
zu essen, seinen Leib und seine Eingeweide damit zu füllen.
Und der Prophet stellt fest:
"Da aß ich sie, und sie wurde in meinem Munde so süß
wie Honig."
So
lustvoll nahe also kann das Wort G"ttes kommen. Und auch
wir Christen kommen wenigstens ab und zu auf den
Geschmack; nämlich dann, wenn uns das Psalmwort zum
Abendmahl einlädt:
"Kommt, denn es ist alles bereit. Schmecket und
sehet, wie freundlich der Herr ist."
7x wiederholt sich der Umzug mit den Schriftrollen, 7x
sind es andere Träger.
Manchmal
werden die Rollen während des Umzuges noch an andere Männer
weitergegeben, auf daß jedem die große Ehre zuteil wird.
Manchmal auch werden die Umzüge regelrecht versteigert.
Ganz stattliche Summen kommen da zusammen für die Ehre,
die Tora tragen zu dürfen.
Denn: zur Freude am G"ttlichen Wort gehört unlösbar das
gute Tun hinzu; das gesammelte Geld kommt wohltätigen
Zwecken zugute der Diakonie, so würden wir es
sagen.
Der 7.Umzug
ist beendet, alle Schriftrollen bis auf drei werden
wieder in den Schrein zurückgestellt. Zwei Mitglieder
der Gemeinde sind heute besonders erwählt. Bräutigam
der Tora lautet der Ehrenname des ersten, Bräutigam des
Anfanges derjenige des zweiten Mannes. Sie steigen die
Stufen zum Lesetisch hinauf, mit ihnen viele Kinder. Über
ihnen hat sich ein großes Tuch aufgespannt, einem
Hochzeitsbaldachin gleich, befestigt an vier langen
Holzstangen. Der erste Bräutigam, der Bräutigam der
Tora, beginnt vorzulesen, genauer vorzusingen:
"Und dies ist der Segen, mit dem Mose, der Mann G"ttes,
die Kinder vor seinem Tode segnete".
Bis zum
Ende des 5. Buches Mose trägt er vor, das vom Tod und
Begraben-Werden und von Israels Trauer erzählt. Dann
tritt der zweite Bräutigam herzu und beginnt:
"Im Anfang schuf G"tt den Himmel und die Erde."
Die ganze Schöpfungsgeschichte bis zur Erschaffung des 7.Tages,
des Schabbat, trägt er vor. Und weil er vom Anfang der
Welt erzählt, heißt er eben Bräutigam des Anfangs.
So biegt
sich das Ende der Tora sofort und ohne Unterbrechung in
ihren Anfang zurück, so verbindet Israel das Ende seiner
Wüstenzeit mit dem Anfang der Schöpfung, so schließt
sich der Kreis: Ende und Anfang vielleicht ein
Bild der Ewigkeit in der Zeit.
Simchat
Tora: vor allem ein Hochzeitsfest der Bräutigam
Israel vermählt sich mit der Königin und Braut Tora;
das geistvolle Liebesspiel von Frage und Antwort, das
Lernen und Studieren beginnt von neuem.
"Ich
kam in den Garten meiner Schwester und Braut, pflückte
meine Myrrhe und meinen Balsam, ich aß meine Wabe und
meinen Honig, trank meinen Wein und meine Milch. Esset,
ihr Freunde, und trinkt und berauscht euch in Liebeslust"
so singt der Bräutigam im Hohelied der Bibel. So
sinnlich und unverhohlen erotisch kann es sein, sich mit
der Weisung G"ttes, der Braut und Königin Tora zu beschäftigen.
Und wir
Christen, wieder zurück von unserer kleinen Reise,
wieder hier in Duisburg am Sonntag Morgen?
Hinlänglich irritiert kommen wir von einer solchen Reise
zurück; kämen wir zurück, wenn wir sie wirklich
unternommen hätten.
Auch wir
kennen die Freude am G"ttlichen Wort, am Evangelium. Da
steckt die Freude ja schon im Wort:
Euangelion/ Evangelium = frohe Botschaft heißt das übersetzt.
Aber Freude am Gesetz?
Sind
gerade wir protestantischen Christen nicht so überaus
stolz darauf, daß Christus für uns die Freiheit erkämpft
hat, die Freiheit vom Zwang des Gesetzes? Und dieser
Freiheitsstolz sollte nun falsch sein? Nicht vom Gesetz,
sondern zum Gesetz hätte Christus uns befreit?
Ja, liebe
Gemeinde,
genau so verhält es sich. So wie G"tt Israel aus der ägyptischen
Knechtschaft herausführte und befreite und am Sinai
unter das Joch der Gebote führte, so sind auch wir von
Ostern her befreit: von den Fesseln des Todes und der Sünde
befreit, können nun auch wir das Gesetz G"ttes tun, das
Joch der Gebote tragen denn sanft ist es und
leicht seine Last.
Lassen wir uns also anstecken von Israels Freude an der
Tora, werden wir neugierig auf die vielen kleinen
Einzelweisungen, 613 an der Zahl.
613 Wegzeichen und Geh-Hilfen, 613 Angebote, durch die
wir es mit G"tt zu tun bekommen, durch die wir etwas von
G"tt selbst erfahren.
Und welche und wiewenige oder wieviele von den so
zahlreichen G"ttesschritten wir auch gehen werden, eins
ist gewiß: alle führen uns zum guten Leben und ins
verheißene Land.
Darum also:
Gelobt seist Du Ewiger, König der Welt, der Du Deinem
Volk Israel die Tora gegeben hast.
Gelobt seist Du Ewiger, König der Welt, der Du das Licht
der Tora unter die Völker gesandt hast, durch Jesus
Christus, unseren Herrn.
Und der Friede G"ttes, der höher ist als
alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus
Jesus.
Amen.
5. Mose 30, 9-20
(Ü:
Buber Rosenzweig)
9 ER dein Gott überlädt dich an allem
Tun deiner Hand,
an Frucht deines Leibes, an Frucht deines Viehs, an
Frucht deines Bodens,
zum Guten,
denn ER dein Gott kehrt wieder, sich an dir zu ergötzen,
zu Gutem,
wie er sich an deinen Vätern ergötzte:
10 denn du hörst auf SEINE deines Gottes Stimme,
zu wahren seine Gebote und seine Satzungen,
was in diesem Buch der Weisung geschrieben ist,
denn du kehrst um zu IHM deinem Gott
mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele.
11 Denn dieses Gebot, das ich heuttags dir gebiete,
nicht entrückt ist es dir, nicht fern ists.
12 Nicht im Himmel ist es, daß du sprächest:
Wer steigt für uns zum Himmel und holts uns
und gibts uns zu hören, daß wirs tun?
13 Nicht überm Meer ist es, daß du sprächest:
Wer fährt uns übers Meer hinüber und holts uns
und gibts uns zu hören, daß wirs tun?
14 Nein, sehr nah ist dir das Wort,
in deinem Mund und in deinem Herzen,
es zu tun.
15 Sieh,
gegeben habe ich heuttags vor dich hin
das Leben und das Gute,
den Tod und das Böse,
16 da ich heuttags dir gebiete,
IHN deinen Gott zu lieben,
in seinen Wegen zu gehn,
seine Gebote, seine Satzungen, seine Rechtsgeheiße
zu wahren:
leben wirst du,
wirst dich mehren,
ER dein Gott segnet dich in dem Land, wohin du kommst
es zu ererben.
17 Wendet sich aber dein Herz,
hörst du nicht,
lässest dich absprengen,
neigst dich andern Göttern,
dienst ihnen, -
18 ich melde euch heuttags,
daß ihr dann schwinden, schwinden müßt,
nicht werdet ihr Tage längern auf dem Boden,
dahin zu kommen du den Jordan überschreitest, ihn zu
ererben.
19 Zu Zeugen habe ich heuttags gegen euch den Himmel
und die Erde genommen,
das Leben und den Tod habe ich vor dich hin gegeben,
die Segnung und die Verwünschung,
wähle das Leben,
damit du lebst, du und dein Same:
20 IHN deinen Gott zu lieben,
auf seine Stimme zu hören,
an ihm zu haften,
denn das ist dein Leben und Länge deiner Tage
beim Siedeln auf dem Boden, den ER deinen Vätern,
Abraham, Jizchak, Jaakob, zuschwor ihnen zu geben.