Gnade sei mit euch und Friede von dem,
der da ist und der da war und er da kommt!
Liebe Gemeinde!
Irgendein Tag vor
gut 55 Jahren. Irgendeine Front. Ein Soldat sagt zum
anderen:
"Du
mußt jetzt gehen, und denk daran, daß ihr ihn mitnehmt, er
liegt vorne an der alten Flakstellung. Weißt du, es ist
ein Halber, in einer Zeltbahn:"
Der Soldat macht sich auf und geht, bis er die
zerschossene Baracke der alten Flakstellung findet. Dort,
wo das Geschütz gestanden hatte, klafft ein dunkles,
viereckiges Erdloch. Nahebei hocken auf alten
Munitionskisten drei Soldaten wie große, stumme Vögel
in der Nacht. Kein Wort fällt, kein Laut ist zu hören.
In ihrer Mitte liegt ein Bündel in einer Zeltbahn, ein Bündel
aus Fleisch und Knochen, ehemals ein Mensch, jetzt eine
formlose Masse.
Der hinzugekommene Soldat hockt sich auch nieder, auf
einen Stapel alter Munitionshülsen. Niemand rührt sich,
man wartet und brütet. Ab und an wandert der Blick zum
stummen und dunklen Bündel in der Mitte. Endlich
durchbricht der Zugmelder das Schweigen: "Sollen wir
gehen?" Er tritt als erster an das Bündel heran,
dann sagt er, indem er sich bückt:
"Jeder nimmt eine Ecke, es ist ein junger Pionier,
ein halber Pionier."
Die vier Soldaten ergreifen je eine Ecke der Zeltbahn.
Sie schleppen sich vorwärts, dem Dorfrand entgegen.
Jeder Tote ist so schwer wie die ganze Erde, aber diese
halbe wiegt so schwer wie die Welt...
Liebe
Gemeinde,
die Geschichte, deren ersten Teil ich Ihnen gerade erzählt
habe, stammt von Heinrich Böll.
Sie trägt den Titel "Die Essenholer". Wenn man
sie heutzutage liest, mag man sich schon fragen: warum
nur bringen die vier Männer sich in Lebensgefahr, um
dieses Bündel, diesen halben Pionier zu bergen? Sicher,
es ist eine Pflicht der Pietät, Tote zu bestatten. Und
es ist ein Trost für die Angehörigen, ein Grab zu
kennen, wohin sie ihre Trauer wenden können.
Aber in
Kriegszeiten, in solchen Kriegszeiten mit tausenden und
abertausenden zerfetzten und verstümmelten Leibern
kommt es da auf einen halben Leib, auf einen
halben Pionier an?
Da sagen
wohl die einen: "Mit dem Tod ist alles aus
also ist es gleichgültig, was mit den Überresten
geschieht!"
Und da
sagen wohl andere: "Auf die unsterbliche Seele des
Menschen kommt es an, die ist das Wichtigste der
Leib mag vergehen, unwichtig ist er!"
Merkwürdig,
nicht wahr? Zwei ganz unterschiedliche Positionen treffen
hier aufeinander, aber im Ergebnis finden sie sich. Denn
beide Meinungen nehmen den Toten ihre Bedeutung.
Wer meint,
mit dem Tod sei alles aus, der riegelt die Toten gegen
jede Zukunft ab. Wer jenseits des Todesgrabens nichts
mehr sieht und erhofft, biegt alles auf das Leben hier
und jetzt zurück. Alles muß dann den Möglichkeiten des
Daseins hier und jetzt abgepreßt werden: nur nichts
verpassen, nur ja sich nichts wegnehmen lassen, nur ja
alles sichern, versichern und schützen
vornehmlich auch gegen andere Menschen: diese
bedrohlichen Konkurrenten, die miteinander oder besser
gegeneinander um den Kuchen des maximalen Lebensglücks
streiten. Gier und Angst beginnen dann, das Leben zu
vergiften.
Wer gierig
ist, stellt die Augenblicke seines Lebens unter
Erfolgszwang.
Jetzt muß sie sich doch einstellen die Erfüllung;
jetzt muß er doch kommen der große, intensive,
hinreißend-schöne Augenblick, in dem alles Verlangen
gestillt wird.
Es wird aber nicht gestillt, stattdessen breiten sich Ödnis
und Enttäuschung aus.
Gleich erwacht die Gier aufs Neue, eine neue Gelegenheit
zu erjagen vergeblich auch diesmal.
Und immer wird die Gier von der Angst begleitet, wie von
einem Schatten.
Von der Angst: daß hinter jeder erjagten Gelegenheit,
hinter jedem so schwer erlangten Genuß doch schon der
Abgrund des Endes lauern könnte.
Lebensgier
und Todesangst: ein unheilvolles Geschwisterpaar sind
sie; die Angst vor dem drohenden Ende steigert die Gier,
und an der unerfüllbaren Gier gewinnt die Angst neue
Nahrung.
"Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir
tot" dies Wort des Propheten Jesaja trifft
auch auf unsere gegenwärtige Gesellschaft zu: diese spaß-
und eventgierige Gesellschaft. Ohne Not verschleudert sie
die Güter dieser Erde, als sei sie nicht G"ttes gute Schöpfung.
Ohne Gedächtnis vernutzt sie das, was vergangene
Generationen erstritten oder wofür sie gelitten haben.
Ohne
Verantwortung für die kommenden Generationen fällt sie
jetzt Entscheidungen, die in der Zukunft nicht mehr zu
korrigieren sein werden.
"Mit dem Tod ist alles aus" Verzweiflung
spricht aus diesem Satz, eine Verzweiflung, die das Leben
und die Lebensbedingungen vergiftet, zuznehmend.
Und die
andere Position? Diejenige, die an die Unsterblichkeit
der Seele glaubt, aber für unwichtig hält, was mit dem
Leib geschieht?
Nicht Gier
und Angst schwingen hier die Peitsche, dafür macht sich
eine träge Gleichgültigkeit breit: solange meine Seele
nicht in Mitleidenschaft gezogen wird, solange und soweit
ist alles erlaubt. Der Tod kann mir nichts anhaben, er
trifft ja nicht meine Seele, die unsterbliche, nur meinen
Leib, den unwesentlichen. Überhaupt ist der Tod nichts
Wesentliches, mag er auch die Leiber fressen und die Welt
vernichten. Selbst das atomare Feuer können wir also in
Kauf nehmen, selbst den Weltenbrand. Auch die Bilder von
Hiroshima müßten uns nicht mehr schrecken;
Photographien, auf denen ein schwarzer Schatten zu sehen
ist da, wo eben noch ein Mensch stand. Auch diese
schwarzen Schatten müßten uns nicht schrecken, da doch
die Seelen unsterblich sind.
"Auf
die unsterbliche Seele kommt es an" nicht
Verzweiflung, wohl aber eine fahrlässige Gleichgültigkeit
spricht aus dieser Überzeugung. Weil der Tod nicht ernst
genommen wird, überläßt man den Mächten des Todes das
Feld - und so frißt sich der Tod ins Leben hinein.
Und was
glaubt Paulus? Hören wir noch einmal auf den Predigttext....
Leidenschaftlich
also wendet sich Paulus gegen die beiden dargestellten
Glaubensweisen. Der Tod ist nicht das Ende das
wissen wir Christen, sagt Paulus. Wir wissen es, weil G"tt
den toten Jesus von Nazareth auferweckt und zu neuem,
unzerstörbarem Leben befreit hat. Jenseits der
Todesgrenze gibt es nun für uns etwas zu hoffen. Unser
ganzes Dasein hat ein Ziel, unser ganzes Leben eine
Richtung gewonnen. Und gegen die prächtigen Gemächer
der himmlischen Wohnung mag sich unsere irdische
Behausung wie eine armselige Hütte ausnehmen; ziemlich
windschief und fragil. Und weil wir an dem auferweckten
und verherrlichten Christus gelernt haben, hinüber zu
hoffen in eine bessere Welt, deshalb seufzen wir und
sehnen uns; möchten eben gleich auswandern aus dem
irdischen Jammertal, um heimzukommen, daheim zu sein
dort bei Christus und dem Vater.
Bedient
Paulus also doch das Klischee vom weltflüchtigen
Christen, der die armselige Hütte seines sterblichen
Leibes lieber jetzt als gleich gegen das ewige Haus der
unsterblichen Seele eintauschen möchte?
Nein, das
tut Paulus nicht. So ernst wie er das Leben in all seiner
Unerlöstheit, in all seinen Leiden nimmt, so ernst nimmt
er auch den Tod. Am Tod stirbt der ganze Mensch, nicht
nur der halbe Mensch des Leibes.
Und G"tt
bietet Seine ganze Lebenskraft auf, um - wie einst die
Welt aus dem Nichts so auch die Toten aus dem Tod
aufzuerwecken. Er bot Seine Lebenskraft auf, als Er den
einen Menschen, Jesus von Nazareth, auferweckte, Er wird
sie aufbieten, wenn dereinst alle Sterblichen mit dem
neuen, unzerstörbaren Leben bekleidet werden.
Und wie
wird das sein, das neue Leben?
Paulus
sagt uns nichts Genaues; wie sollte er auch: denn wir
sind alle noch nicht am Ziel, sondern unterwegs. Aber
eines ist gewiß: in seelischer Nacktheit werden wir G"tt
nicht unter die Augen treten. Nicht entkleidet, sondern
überkleidet werden wir sein. Kein Leben, auch kein
ewiges und zukünftiges, ohne Leib das hält
Paulus fest.
Noch aber
sind wir unterwegs, unterwegs mit diesem Leib. Alles auf
diesem Weg ist wichtig: alle unsere Schritte, alle unsere
Werke. Wenn wir G"tt dereinst unter die Augen treten, so
wird Er nicht nur auf die Absichten unserer Seelen,
sondern auch auf die Werke unserer Leiber schauen: auf
den ganzen Menschen, auf Leib und Seele, wird Er schauen
und dann Sein Urteil sprechen.
Und was könnte
uns auf diesem Weg Kompaß und Wegweiser sein?
Paulus
sagt: G"tt, der uns auf den Weg zu Ihm hin gestellt hat,
der hat uns den Geist als Angeld gegeben. Der Geist tröstet
uns und gibt uns Konkretes zu hoffen, über den Abgrund
des Todes hinüber zu hoffen. Wohl ist der Tod ein Ende,
das letzte Wort hat er nicht. So bewahrt uns der Geist
vor der Lebensgier und Todesangst, dem Leben hier alles
abpressen zu müssen weil morgen doch schon alles
aus sein könnte. So gewährt der Geist eine freie
Leichtigkeit, die man auch Gelassenheit nennen mag.
Der Geist
bewahrt uns aber auch vor dem anderen Extrem: der fahrlässigen
Gleichgültigkeit. Wir könnten nämlich so einfach uns
in der Sicherheit des ewigen Lebens bergen, ohne zuvor
dieses Leben zu bestehen wir könnten so ohne alle
Mühe beim Letzten sein, ohne das Vorletzte zu
durchschreiten. Denn der Geist G"ttes gewährt die Geduld
auszuharren und die Aufmerksamkeit, das zu erkennen, was
je konkret zu tun ist.
Woran ist
der junge Pionier gestorben? Sicher, an einer Granate.
Aber mehr noch an dem Ungeist, der tödliche und immer
noch tödlichere Waffensysteme ersinnt. Am Glauben, mit
dem Tod sei alles aus und deshalb müsse das kurze Leben
mit allen Mitteln, und seien es die tödlichsten, geschützt
werden, an diesem Glauben ist der Junge gestorben. Und
auch an dem anderen Glauben:
weil die Seele unsterblich sei, deshalb müsse man der
Gewalt des Todes hier auf Erden nicht entgegentreten
auch daran ist der Junge gestorben.
Liebe
Gemeinde,
ich bin Ihnen noch den Schluß der Erzählung Bölls
schuldig. Wie ein Kommentar zu Paulus mutet der Schluß
an.
Die vier
Essenholer schleppen die Zeltbahn mit dem toten Pionier,
als sich das Folgende zuträgt, geschildert aus der
Perspektive der vierten, hinzugekommenen Soldaten:
"Abschuß und Heransausen der Granate hatte ich
nicht gehört; die Explosion zerriß alle Gespinste
traumhafter, halbbewußter Qual, mit leeren Händen
starrte ich ins Leere...Mit einer fast wesenlosen,
neugierigen Spannung wartete ich darauf, daß irgendwo an
meinem Körper sich ein Schmerz melden oder das Fließen
warmen Blutes spürbar werden würde; nichts, nichts von
dem; aber plötzlich spürte ich, daß meine Füße halb
über einem Hohlraum standen, daß meine Fußspitzen bis
zur Hälfte des Fußes im Leeren schwankten, und da ich
mit der nüchternen Neugierde eines Erwachsenen
niederblickte, sah ich, schwärzer als die Schwärze
ringsum, einen großen Trichter zu meinen Füßen...
Ich ging mutig nach vorne in den Trichter hinein, aber
ich fiel nicht und sank nicht; weiter ging ich, immer
weiter auf wunderbar sanftem Boden unter dem vollendeten
Dunkel des Gewölbes...bis der große gelbe, glänzende
Stern vor mir aufstieg und sich am Gewölbe des Himmels
festpflanzte; und leise strahlend fanden sich auch
paarweise die anderen Sterne ein, die sich nun zu einem
Dreieck zusammenschlossen. Da wußte ich, daß ich an
einem anderen Ziele war und wahrheitsgemäß vier und
einen halben würde melden müssen, und als ich lächelnd
vor mich hinsagte: viereinhalb, sprach eine große und
liebevolle Stimme: fünf!"
Der G"tt
de Bibel macht keine halben Sachen, Er will keine halben
Menschen und keine halben Leiber. Ganz will Er uns und
ganz werden wir sein dereinst vor Seinem Thron.
Amen.
Und der Friede G"ttes, der höher ist als
all unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.